Akanáh

    • Sie öffnete ihre linke Hand und schloss sie wieder. Die Bewegung war schwerfälliger, als wenn sie dasselbe mit der Rechten tat. Sie wiederholte die Bewegung und beobachtete die Finger fasziniert mit ihrem einen Auge. „Akanáh“, murmelte die alte Frau.

      In der Scheune des Bauernhofs hockte sie warm und trocken im Heu, während draußen ein heftiger Herbststurm wütete. Das Ächzen der Bäume war in ihren Ohren beinahe ebenso laut wie der prasselnde Regen und das Heulen des wilden Windes. Viel konnte zerbrochen werden, wenn ein solches Wetter tobte, das wusste sie nur zu gut: Ob es außen oder innen stürmte, ob Regen fiel oder Gier oder Hass wühlte...

      Aus ihrer Manteltasche fischte sie ein Stückchen kandierten Ingwer und begann, darauf herum zu kauen. „Thánys, Álliah. Pháridon.“ Sie hatte die Grenze nach Serendia schon vor einer Weile überschritten; nun befand sie sich wohl in der Nähe der Stadt Heidel. Ihr Stab lag neben hier; sie hob ihn auf und stemmte ihn auf den Scheunenboden, dann zog sie sich mit seiner Hilfe hoch und spähte aus dem kleinen Fenster, dessen Schlagladen sie etwas aufschob.

      Ein heller Blitz zuckte über den Nachthimmel und warf ein grelles Licht auf den leeren Hof und ließ die Harke, die noch am Brunnen lehnte, einen scharfen Schatten werfen. Sie spürte einen Stich, wie eine Ahnung von dem zerfetzenden Hieb, den die Klaue des Schicksals auszuteilen vermochte. Erinnerung überflutete sie. Rasch ließ sie sich wieder ins Stroh sinken und wandte sich von dem Fenster ab. Erinnerungen waren nicht gut.

      Höchstens, wenn man selbst sie rief. Wenn sie gehorchten.

      „Shánasa.“
      "How very fitting that they would build a prison for mages in the middle of a lake and make it look like a giant phallus." (Morrigan)

      „Man kann keine neuen Ozeane entdecken, hat man nicht den Mut, die Küste aus den Augen zu verlieren.“
      (André Gide)

    • In Heidel begegnete es ihr wieder: Eine junge Frau sah sie an, als sie schwerfällig über das holprige Pflaster in einer abgelegenen Gasse humpelte, und erstarrte. Dann machte sie ein Zeichen, das angeblich vor Hexerei schützen sollte und spuckte ihr vor die Füße. Um das Mädchen nicht zu enttäuschen, rollte Shoulaya ihr verbliebenes Auge und murmelte düster irgendwelche erdachten Worte. Als die Unbekannte erbleichte, ging sie, so rasch es möglich war, weiter: In Serendia und Calpheon fürchtete man sich vor Magie, auch, wenn man nicht viel von ihr wusste. Sie wollte keinesfalls vor frömmelnden Idioten oder auf einem Scheiterhaufen landen.

      Hinter einem unzureichend mit Brettern vernagelten Eingang fand sie ein windgeschütztes und trockenes Asyl für die Nacht. Abgekämpft ließ sie sich nieder. Es war ein so weiter Weg und alles war schwer. Für einen Moment döste sie ein. Sofort erschienen die Bilder in ihr. Das Mauerwerk im warmen Glanz der Sonne. Die einzelnen Sträucher, hellgrün und grau. Das Stahlblau des Himmels. Sein Gesicht.

      Sie schrak auf und griff nach ihrem Stab. Um ihn gekrümmt sahen ihre Finger im Halbdunkel des verfallenden Hauses aus wie die Krallen eines verhungerten Tiers. Wortlos rezitierte sie einen heilenden Vers: Das wenige, was sie an Kraft besaß, musste sie bewahren. Unbedingt.

      Und sie konnte es nicht ertragen, sein Gesicht zu sehen.
      "How very fitting that they would build a prison for mages in the middle of a lake and make it look like a giant phallus." (Morrigan)

      „Man kann keine neuen Ozeane entdecken, hat man nicht den Mut, die Küste aus den Augen zu verlieren.“
      (André Gide)
    • „Sieh mich nicht so an, ich hab keine Maus in der Tasche“, brummte Shoulaya. Die schwarze Katze, die ihr in den vergangenen Tagen bis nach Velia gefolgt war, maunzte. „Beweg deinen pelzigen Hintern“, fügte sie ungeduldig hinzu. Sie war müde. Ihr war kalt. Sie war – alt.

      „Leute gibt es hier“, hörte sie eine Stimme hinter sich murmeln. Langsam drehte sie sich um.

      „Ja?“, fragte sie. „Was denn für welche?“

      Vor ihr stand eine große junge Frau mit hellblond aufgetürmtem Haar und Augen, die wie ein Smaragd funkelten. Ihr Gewand war gepflegt und sauber; auf dem Rücken baumelte ein Rucksack.

      „Sehr eigenartige“, sagte die Blonde. „Naja, die meisten kenne ich sowieso nicht.“

      Shoulaya lauschte auf ein freundliches Summen in ihren Eingeweiden. Die junge Frau trank aus den Quellen, die auch sie nutzte. „Aha“, sagte sie. „Und du weißt trotzdem, wer sie sind, ja?“

      Eine schwierige Unterhaltung entspann sich. Für so etwas hatte sie nicht mehr viel Geduld, auch wenn es ihr irgendwie Spaß bereitete. „Hast du kandierten Ingwer?“, fragte sie.

      „Nö. Wieso“, erwiderte die junge Magierin. „Wollt Ihr Tee machen?“

      Sie lachte heiser. „Tee? Mädchen, kandierter Ingwer ist zum Lutschen!“

      Die Antwort verblüffte sie. „Warum kauft Ihr keinen Lutscher?“

      Finster runzelte sie die Stirn. „Weil ich selbst lutschen will. Also wirklich.“

      „Einen Lutscher lutscht man auch selber. Der heißt Lutscher, weil er zum lutschen ist!“

      Ah, so lief der Hase. „Also ist ein Bauer was zum bauen?“

      Sie setzten sich gegenseitig Matt. Shoulaya ertappte sich dabei, wirklich Spaß zu haben. Das Mädchen hatte einen festen Willen. Sie erklärte ihm, dass Lehrer immer wild auf etwas Süßes waren.

      „Also die, die ich kenne, waren auf gar nichts wild“, erwiderte das Mädchen. „Die wurden nur wild, wenn...“ Sie unterbrach sich. „Jedenfalls habe ich keinen kandierten Ingwer. Aber Zucker hab ich.“

      „Zucker!“ Begeistert schürzte Shoulaya die Lippen. „Das ist immerhin ein Anfang! Aber...“ Sie beugte sich vor und sprach leise. „Lehrer, die nicht wild auf kandierten Ingwer sind, taugen nichts.“

      „Ihr seid wohl Lehrerin?“

      „Wenn ich Zucker bekomme, sofort.“ Sie lachte.

      Das Angebot, es sich oberhalb der Küste Velias gemütlich zu machen, um den Zucker zu lutschen, nahm die junge Magierin nicht an. Auch einen Lehrer wollte sie nicht.

      „Im Moment suche ich ein Haus“, offenbarte sie. „Meine Lehrzeit ist schon eine Weile her.“

      Shoulaya kicherte. 'Ja, ja...'„Meine nicht“, erwiderte sie.

      „Ihr seht aber so aus.“

      'Oho!' „Das ist aber frech“, antwortete Shoulaya vergnügt.

      „Ich bin nicht frech, nur ehrlich und direkt.“

      „Ah“, machte Shoulaya sanft. „Dann bitte ich recht herzlich um Vergebung. Wie war das mit dem Zucker?“

      „Macht Ihr das eigentlich öfter?“, fragte die Jung-Magierin. „Leute nach Zucker fragen, oder Lutscher-Ersatz? Oder sowas?“

      „Niemals!“, gab Shoulaya entrüstet zurück. „Vielleicht erzählst du mir mal, warum du ein Haus kaufen willst.“

      „Um drin zu wohnen“, erwiderte ihr Gegenüber. „Für eine Weile. Und die Tür zu zu machen, damit nicht ständig irgendwer nach irgendwas fragt.“ Sie deutete an, dass sie zehn Zuckerstücke erübrigen könne.

      „Ts, ts“, machte Shoulaya. „Das ist aber nicht freundlich, wo doch alle Antworten auf ihre Fragen brauchen. Ich heiße übrigens Shoulaya.“

      „Ich bin Susi. Susi Sorglos.“

      „Natürlich“, nickte Shoulaya und starrte auf Susis Hände, die in ihrem Rucksack wühlten, während es an dessen Rand interessant schimmerte. Als sie die zehn Würfel bekam, steckte Shoulaya drei davon in den Mund und lutschte hingebungsvoll.

      „Das mit dem Hauskauf ist nicht so einfach“, berichtete Susi.

      „Ach“, sagte Shoulaya. „Das schaffst du doch einfach... im Handumdrehen.“ Sie kicherte. Ach, wie liebte sie diese Süße!

      „Und das wisst Ihr weil?“

      Glücklich lutschte sie noch etwas, bevor sie den süßen Brei schluckte. „Das kann ich schmecken, Mädchen.“

      „Schmecken“, murmelte Susi. „Soso. Im Zucker?“

      „Na, Urin gab's ja nicht, oder?“

      Das sei widerlich, tat Susi kund. Shoulaya pflichtete ihr bei. Sie hatte es auch nie lecker gefunden.

      „Wie alt bist du?“, fragte sie Susi.

      „Das fragt man eine Lady nicht!“ Die junge Dame wirkte empört.

      „Ich frag doch dich“, erwiderte Shoulaya verständnislos.

      Susi verschränkte die Arme und zog ihre Augenbrauen zusammen. „Eben!“

      „Äh...“, murmelte die Alte und kratzte sich unter der Hutkrempe. „jetzt haben wir ein Missverständnis. Nun. Egal.“ Sie sah Susi an. „Ich glaube, meine Tochter müsste in deinem Alter sein.“

      „Ist sie süß?“, fragte Susi.

      „Nun...“, antwortete Shoulaya etwas verdattert. „Ich weiß es nicht. Warum? Magst du lieber Frauen?“

      Pikiert sah Susi sie an. „Wie bitte?“

      'Das ist alles zu kompliziert', dachte Shoulaya. 'Und ich bin müde.' Das Gespräch plätscherte ein wenig vor sich hin, zuletzt ging es darum, was sie fragen sollten... könnten... wollten.

      „Ich zum Beispiel würde fragen, welche Experimente schief gegangen sind, dass Ihr so ausseht“, plauderte Susi entspannt. „Aber das wäre wirklich frech und unhöflich.“

      „Das würdest du fragen“, lächelte Shoulaya und bleckte ihre verbliebenen Zähne. „Schlaues Mädchen.“ Sie fand es wichtig, der jungen Magierin noch etwas zu raten. „Du weißt, dass Calpheon Magie und Magier geächtet hat?“

      „Ja, ich weiß. Aber ich zaubere ja nicht in Calpheon.“ Die junge Frau war alles andere als dumm. „Müsstet Ihr nicht Eure Tochter unterrichten?“

      „Besser nicht“, teilte Shoulaya mit.

      Sie verabredeten, dass sie sich wieder treffen würden. „Am besten haltet Ihr erstmal die Ohren offen“, riet Susi.

      Shoulaya seufzte innerlich. „Nun, das ist eine Aufgabe, die ich bewältigen kann. Gute Wege, Susi.“
      "How very fitting that they would build a prison for mages in the middle of a lake and make it look like a giant phallus." (Morrigan)

      „Man kann keine neuen Ozeane entdecken, hat man nicht den Mut, die Küste aus den Augen zu verlieren.“
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