Gratwandel

    • Schweren Schritts ging Parseval durch das nachtstille Calpheon. Nun, zumindest hier im Kapellenviertel pflegte es nachts still zu sein.

      Seine Tritte hallten auf dem Pflaster wider. "Ich brauche dich mehr als sonst wer!" Mendreds Worte hallten in seinem Inneren wider. In seinen Gedanken erklang eine Antwort: 'Ich bin doch da, mein Freund.'

      Mendred war verwirrt und suchte Nähe. Parseval verstand das. Und dennoch fand er es schwer, diese Nähe auszuhalten, wenn er doch genau wusste, dass diese Entwicklung ihre Freundschaft mindestens bis zum Rande des Erträglichen belasten würde. 'Mindestens.'

      "Vielleicht täusche ich mich auch und er akzeptiert das", hatte Mendred gesagt. Wütend trat Parseval einen Stein weg. "Du bist ein Trottel", hatte er irgendwann zu seinem Freund gesagt. Zu seinem Freund, dem einzigen Menschen, der ihm nahestand.

      Für einen Moment hätte er gern geweint.

      In der Kirche zündete er wieder vier Kerzen an. Wie jeden Tag.
      "How very fitting that they would build a prison for mages in the middle of a lake and make it look like a giant phallus." (Morrigan)

      „Man kann keine neuen Ozeane entdecken, hat man nicht den Mut, die Küste aus den Augen zu verlieren.“
      (André Gide)
    • Er hatte auf dem Winterball zuerst keinen Tropfen Alkohol getrunken. 'Das lässt die Pflicht nicht zu', hatte er sich gesagt. 'Du musst Mendred und seine Familie beschützen.' Doch irgendwann war ihm nur noch danach zu Mute gewesen, sich sinnlos zu betrinken. Natürlich hatte er es nicht getan, aber ein, zwei Becher Wein... Die hatte er schon getrunken. Nun, wo er auf der Kante seines Betts hockte, machten sie seinen Kopf schwer. So war er wenigstens mit seinem Herzen in Gleichgewicht.

      Dass Adlige immer im Recht waren, das wusste er schon lange. Egal, was sie anstellten, sie waren die Brötchengeber, die Elite des Landes. Es war nur früher nicht so schwer gewesen. Weil Mendred und er immer einen Blick hatten austauschen können, wenn jemand schwierig war. Sie waren doch Freunde! Aber nun war Mendred einer von ihnen.

      Ihn zu hören, wie er mit Khaled über die merkwürdige Seherin, die verschwundene Xellesa und dann über Leyla redete – es war, als wäre er aus einem schönen Traum für immer erwacht. Wieder und wieder hörte er die Stimmen. „Ich kenne einige Schriften meines Weibs“ - „Keine Seele wird so jemanden hier in Calpheon vermissen“ - „Es wäre durchaus eine vortreffliche Partie für Leyla.“ (Khaled) „Ja, uns allen liegt etwas an Xellesa.“ - „Nun, vielleicht solltet Ihr die Dame einfach der Stadtwache melden?“ - „Nun, vielleicht kann man da ja was arrangieren.“ (Mendred). Irgendwann war er etwas von den beiden fort gegangen. Er konnte nicht ertragen, wie selbstverständlich sie miteinander kommunizierten, so, als seien sie alte Freunde. Als Mendred sich zu seiner Zukünftigen gesellt hatte, war er noch einmal zu Khaled gegangen, der überheblich auf einer Bank saß wie auf einem Thron. „Habt Ihr noch genug zu trinken?“, hatte er ihn gefragt. Khaled hatte die Frage richtig eingeschätzt. „Warum?“, fragte er zurück und grinste. „Wollt Ihr mir was Vergiftetes bringen?" Parseval hatte ihn angelächelt. „Falls es an etwas fehlt – vergesst nicht: Ich kann Euch jederzeit voll einschenken.“

      Die Drohung hatte seinen Zorn nicht beruhigen können. Aus der hilflosen Wut heraus hatte er noch die Hure angeknurrt, die sich auf die Feier geschlichen hatte. Doch was half sein Zorn? „Er ist noch immer Teil der Familie“, hatte Mendred irgendwann verlegen gesagt. So lief das. Teil der Familie. Der Mann, bei dem sich er und Parseval immer einig waren, dass er ein Widerling war.

      Am Schluss hatte sich Gräfin Tsatsuka zu ihm gesellt. „Trink doch ein bisschen was, amüsiere dich.“

      „Ich amüsiere mich“, hatte er kalt geantwortet.

      „Bereitet dir etwas Sorgen?“, hatte die Gräfin ihn gefragt und düster, wie er gestimmt war, hatte er bekannt, dass es vieles gab, das ihn bekümmerte. Und sie dann tatsächlich gefragt, ob sie Mendred liebte.

      „Ja. Ich war über die Entwicklung sehr überrascht, aber er war schon immer ein guter Freund und... mittlerweile liebe ich ihn auch, ja.“

      Zum ersten Mal hatte er sie da angesehen. „Das ist gut.“

      „Ich will jedenfalls nicht, dass ihm etwas zustößt.“

      Parseval hatte durchgeatmet. „Dann stehen wir wohl auf einer Seite.“

      „Immer, Parseval“, hatte sie erwidert. „Immer.“

      'Ist denn alles, was ich gelernt hatte, nicht mehr wahr, heutzutage?' Er stützte seinen Kopf in die Hände und stöhnte. 'Und ich habe sie zur Jagd eingeladen...'
      "How very fitting that they would build a prison for mages in the middle of a lake and make it look like a giant phallus." (Morrigan)

      „Man kann keine neuen Ozeane entdecken, hat man nicht den Mut, die Küste aus den Augen zu verlieren.“
      (André Gide)
    • Ein wenig müde, aber nicht angespannt war Parseval heute nach Hause gekommen. Dieser neue Knabe in der Wache; Mendred und er mussten sich über ihn einmal unterhalten. Es war nicht gut, wenn jemand von Beginn an-

      „...Strafe Gottes....“

      Das Murmeln riss ihn herum, als er gerade auf den Schrank an der Stirnseite des Zimmers zuging. Entgeistert starrte Parseval auf die Frauengestalten, die plötzlich in seinem Zuhause standen. Eine größer, sehr aufrecht stehend, die andere kleiner. Er meinte zu sehen, wie das Licht des Kronleuchters in ihnen flirrte.

      „...es gibt kein Entrinnen, sie wird Euch ereilen...“

      Kaum ein Laut kam aus seiner Kehle, als er „Ysoldia“ flüsterte.

      „...Ihr habt zu viel Wein getrunken...“

      Haltlos sackte Parseval auf das Bett. Er war wieder in Valencia, kam aus der Hitze des Tages heim, seine Frau empfing ihn, er küsste sie, fasste, nach ihr, sie wies ihn zurück. „Du hast zu viel Wein getrunken.“





      „....eine Gefahr wird Euch ereilen, bleibt immer wachsam...“ Die Gestalten verschwanden.

      „Was?“, fragte Parseval fassungslos.

      Schwerfällig stand er auf und verließ sein Heim, schlug die Gasse ein, die ins Zentrum Calpheons führte, stieg hinauf zum Gasthaus „Lys Noir“.

      „Gebt mir das Stärkste, das ihr habt“, sagte er zur Bedienung. Eine Weile starrte er das Glas an, dann legte er den Kopf in den Nacken und goss sich dessen Inhalt in die Kehle. 'Nur nicht mehr daran denken.'

      „Ich habe Geister getroffen“, murmelte er heiser, als sie ihm das zweite Glas hin setzte. Natürlich glaubte sie ihm nicht. Er habe sich getäuscht, sagte sie.

      „Nein“, erwiderte er zornig. „Es waren Geister! Ich weiß es genau!“ Schließlich hatte er gespürt, wie sie die Angst in ihm berührt, sie angefacht hatten. Die Schuld.

      „Meine Frau“, antwortete er mürrisch, als sie ihn fragte, wessen Geist er denn getroffen habe. „Sie ist gestorben... Gemeinsam mit meiner Tochter.“

      Ein weiteres Glas landete vor ihm. „Nein“, murmelte Parseval. „Sie war... Es ist bei ihrer Geburt geschehen.“ Er trank. „Ihr Name war Ysoldia. Sie war schön. So schön...“

      Er wischte sich den Mund ab. „Ich... Ich bin Schullff... Schuld. Meins. Meine. Ich meine... Meine Schuld.“

      Todeswillig stürzte er auch den neuen Schnaps herunter, doch entschied er sich dann, sich auf das Sofa an der hinteren Wand zu setzen.

      Es war göttliche Gnade, einzuschlafen.
      "How very fitting that they would build a prison for mages in the middle of a lake and make it look like a giant phallus." (Morrigan)

      „Man kann keine neuen Ozeane entdecken, hat man nicht den Mut, die Küste aus den Augen zu verlieren.“
      (André Gide)