Fremd

    • Vor einiger Zeit...

      Das Mädchen wich zurück, näher an den Schutz, den die Büsche zu bieten schienen. Aus ihrer Kehle drang ein Fiepen; vorsichtig berührte sie mit ihrer Hand zwei-, dreimal das Fell des großen Tiers. Der vertraute Geruch war da, nahe bei ihr. Doch das Haarkleid der Wölfin blieb gesträubt, die Ohren und die Rute hoch aufgerichtet.

      Sie warf sich eilig auf den Rücken, schaute in eine andere Richtung und signalisierte so ihre völlige Unterwerfung. Jetzt erst trat bei dem Tier, das ihr Mutter gewesen war, Entspannung ein. Die Wölfin trat näher zu ihr, roch an ihr, hatte die Oberlippe nicht mehr hoch gezogen. Nach einer Weile wagte es das Kind, sich auf den Bauch zu rollen und aufzurichten.

      Das Rudel wollte sie nicht mehr bei sich haben, das machte es dem Mädchen unmissverständlich klar. Wenn sie ihre jüngsten Geschwister lecken wollte, war die Wölfin in der letzten Zeit drohend dazwischen getreten und hatte nach ihr geschnappt. Bei der Beute musste sie warten, bis alle satt waren, erst dann durfte sie sich den Resten nähern. Das war für sie nicht so schlimm, denn sie konnte selbst jagen; erst recht mit dem scharfen Ding, das sie gefunden hatte. Doch nicht mehr dazu gehören zu dürfen, traf ihr Innerstes wie einer der Speere der Zweibeiner, der Wesen, die aussahen wie sie, aber so vollkommen anders waren.

      Das Mädchen hockte nahe des Buschs und sah ihrer Familie zu, die auf der Suche nach Fleisch durch die Nacht trabte. Der Mond schien fahl; Nebel stieg auf.

      Ohne eine Miene zu verziehen warf das Kind den Kopf in den Nacken und begann zu heulen.
      "How very fitting that they would build a prison for mages in the middle of a lake and make it look like a giant phallus." (Morrigan)

      „Man kann keine neuen Ozeane entdecken, hat man nicht den Mut, die Küste aus den Augen zu verlieren.“
      (André Gide)
    • Vor einigen Tagen...

      Sie hatte die helle Zeit verschlafen, die nun kürzer war als zuvor: Der gleißende Feuerball war schon hinter dem Horizont verschwunden, als sie sich aufmachte.

      Gleichmäßigen Schritts und leichten Fußes lief sie durch den Wald und sicherte sorgfältig, bevor sie seinen Rand verließ. Matter Schein fiel nur vom Himmel, die kleinen Lichter verbrannten die Welt nicht so sehr wie ihr großes Geschwister. Das Mädchen sah hinauf zu ihnen, dünne Dunstschichten trieben zwischen den hellen Punkten und der fahlen Sichel. Es war ein gutes Licht für die Jagd.

      Mit leicht offen stehendem Mund witterte das Kind. Schwach drang ein fremder Duft zu ihr und wollte eine Geschichte erzählen. Die feinen Härchen in ihrem Nacken stellten sich wachsam auf. Beinahe geräuschlos schlich sie rückwärts in einen Busch hinein und legte sich auf die Lauer. Langsam wurde der Geruch stärker und Laute drangen zu ihr.

      Verschiedene Stimmen. Worte. Geräusche. Helle Laute erzählten etwas, das das Mädchen nicht verstehen konnte. „Im Osten sind Holzhütten in einem See!“ Es klang, als singe es ein Vogel, hoch aus den Ästen. „Es kann nicht schaden, dort nachzusehen“, waren danach die Laute einer sehr tiefen Stimme zu hören, doch sprach sie sanft. Dann wieder die Helle, sie schrie etwas: „Ja! Fang mich!“

      Ein ganz klein wenig schob sich das Mädchen vor und spähte hinaus. Bei einem Baum sah sie einige Schatten. Ein großer fing einen kleinen auf, der weißes Fell zu haben schien, andere drängten sich um sie zusammen. Hastig drängte sich das Kind wieder in den Busch.

      'Ein Rudel!'
      "How very fitting that they would build a prison for mages in the middle of a lake and make it look like a giant phallus." (Morrigan)

      „Man kann keine neuen Ozeane entdecken, hat man nicht den Mut, die Küste aus den Augen zu verlieren.“
      (André Gide)

      Dieser Beitrag wurde bereits 1 mal editiert, zuletzt von Runagate ()

    • Die Gerüche sprachen nicht zu ihr. Nein. Das stimmte nicht. Sie sprachen fremd. Nur manches verstand sie. Angst. Schmerz. Anstrengung. Das Mädchen lief eilig weg von dem Baum.

      Sie hatte bis zum Anbruch der darauf folgenden Nacht gewartet. Dann erst war sie zu dem Baum gelaufen, um den das Rudel sich versammelt hatte. Doch dieses Rudel war keines, wie sie es kannte. Verwirrt kauerte sie sich unter einen Überhang und leckte sich einige Male über ihren Oberarm. Erleichtert atmete sie ihren eigenen, vertrauten Geruch ein. Dann witterte sie wieder, hockte sich sprungbereit hin.
      "How very fitting that they would build a prison for mages in the middle of a lake and make it look like a giant phallus." (Morrigan)

      „Man kann keine neuen Ozeane entdecken, hat man nicht den Mut, die Küste aus den Augen zu verlieren.“
      (André Gide)
    • Schon einige Male war sie im letzten halben Mond zu dem großen Lager der Zweibeiner getrabt. Die Haut in ihrem Nacken sträubte sich dennoch jedes Mal, wenn sie die Richtung wieder einschlug. Es war so laut dort, keine Ruhe schien möglich: Alle schrien miteinander, belferten sich an, standen auf, kaum, dass sie sich nieder gelassen hatten... Nichts konnte geschehen, ohne dass Lärm darum veranstaltet wurde. Konnte niemand dort riechen? Schmecken? Sehen? Dennoch: Auch dies war ein Rudel.

      Zunächst hatte sie das Geschehen lang aus sicherer Entfernung beobachtet, hatte unter einem Busch am Boden gehockt, hatte gesichert und gewittert. Ein Zweibeiner am Rand des Lagers war ähnlich groß wie sie. Das Wesen stand neben einigen Behältnissen aus geflochtenen Pflanzen. Andere Zweibeiner, meist größer, kamen zu dem Kleineren und gaben ihm etwas Winziges in die Hand, woraufhin sie etwas zurück bekamen – kleine andere Behälter, in denen etwas Farbiges war, etwa. Einmal auch ein kleines Rund, worauf etwas Flaches lag, dass das Rund abschloss. Der kleinere Zweibeiner musste das dominante Tier sein.

      Was die anderen ihm gaben, konnte sie nicht sehen, aber sie wusste, was sie dem Rudelführer geben konnte. In der Nacht fing sie einige fette Wiesel, die sie mit dem scharfen Metallzahn häutete, den sie erbeutet hatte. Am nächsten Morgen trabte sie in der Frühe zu dem kleineren Zweibeiner und streckte die Hand aus, in der sie fettes Fleisch hielt, das noch frisch und blutig war. Dies war zweifellos mehr als das, was die anderen gegeben hatten: Sie würde Teil des Rudels werden.

      Der kleine Zweibeiner hatte sehr helle Haut, fast so weiß wie das Nass, das in der Kälte vom Himmel fiel. Aus dem Weiß wölbten sich seine Augen; rund und groß, so grün wie ein Blatt. Dieses Grün war auf sie gerichtet; das Wesen drohte ihr, um seine Dominanz zu unterstreichen, indem es die Augen aufriss. Dann begann es auch noch, bedrohlich zu heulen: Schrill wie eine Krähe, laut in ihr Gesicht. Es hörte gar nicht mehr auf.

      Verständnislos hielt sie ihm noch einmal das gute Fleisch hin, doch das Geschrei wurde immer schriller. Von den Seiten hörte sie nun Laufschritte heran nahen, von allen Seiten kamen andere der Zweibeiner, folgten dem Geheul. Drohend waren ihre Augen auf sie gerichtet. Auch dieses Rudel wollte sie nicht! Sie ließ das Fleisch fallen und jagte unglücklich und einsam in weichen, hastigen Sätzen fort; so schnell sie konnte hinein in das sanfte Grün der Wiesen, unter das dunkle Grün der Bäume, zurück, heim.

      Allein.
      "How very fitting that they would build a prison for mages in the middle of a lake and make it look like a giant phallus." (Morrigan)

      „Man kann keine neuen Ozeane entdecken, hat man nicht den Mut, die Küste aus den Augen zu verlieren.“
      (André Gide)
    • Lange war sie gewandert, meist durch Wälder oder unzugängliche Schluchten, manchmal auch über Wiesen oder Felder, dies aber immer sehr hastig und nur für kurze Zeit. Sie hatte ihren Durst im eiskalten Wasser einer Quelle gestillt, die den Fels eines Berges durchschnitt, im stillen dunklen Nass eines Sees oder in den gluckernden Wellen, die kleine Flüsse schlugen. Sie hatte Hasen und Wiesel gerissen, einmal ein Lamm.

      In der Luft lag nun etwas von der Honigsüße, die vom Erwachen sprach: Jener Zeit, in der neues Grün aus Erde und Zweig spross und alle von dieser seltsamen Unruhe getrieben wurden. Sie hatte dieses Gefühl noch nie gehabt, aber sie hatte es bei anderen gespürt, ihren Brüdern und Schwestern und auch den Älteren des Rudels. Begonnen hatte es immer damit, dass ihre Mutter um sich biss und alle böse anknurrte und dann immer wieder an einer ganz bestimmten Stelle in der Nähe des Lagers Wasser ließ. Als sie selbst auch einmal dort urinieren wollte, hatte Mutter sie gebissen. Immer endete es dann so, dass der Alte ihre Mutter besprang und ihre Brüder es mit mühsam gezähmtem Neid beschauten.

      'Ich bin anders.' Sie jaulte bei diesem Gedanken auf. Zweimal war sie auf ihrer Wanderung einem Wolfsrudel begegnet. Beide hatten sie in die Flucht getrieben. Einmal hatte sie nahe eines Bauernhofs ein Versteck gefunden und die Zweibeiner dort lange beobachtet. Besonders einen: Etwas kürzer als die anderen bewegte sich dieser viel mehr und viel schneller, er machte auch mehr Lärm, alles was er tat, war mit Krach verbunden. Verständnislos folgte ihr Blick seinen Bewegungen und ihre Ohren zuckten. Gehörte sie denn wirklich zu diesen? Sie sah aus wie er. 'Aber ich bin doch anders?'

      Einige Male hatten die hellen Himmelslichter einander abgewechselt, als sie vor sich hohe Mauern entdeckte. Sie schlossen etwas vor ihr ab, dennoch war auch eine Öffnung darin zu erkennen, durch das sie Zweibeiner und die viergliedrigen Wesen gehen sah, die diese oft bestiegen. Es konnte kein Bau sein, denn es waren immer neue Zweibeiner, die hinein gingen oder hinaus kamen, und doch taten es alle mit solcher Selbstverständlichkeit, als wäre es ihr Zuhause.

      Manche hatten Eisenzähne, auch solche, die länger waren, als ihr eigener, manche trugen Holz, an das eine Schnur gespannt war, einige hatten eine zweite Haut, die klirrte oder ein großes hölzernes Ding auf dem Rücken. Andere wiederum trugen kaum etwas über nackter Haut und schoben das Wenige zusammen, als sei ihnen dies auch noch zu viel. Ein leises Knurren entlockten ihr diejenigen, deren Gewand durch und durch blutig schien und bis zum Boden reichte. Sie gingen auch langsam, so, als seien sie verwundet.

      Sie lauerte, bis Hunger ihre Eingeweide zerriss. Dann erst löste sie sich und erbeutete nach kurzer Jagd eine Ente. Gierig fraß sie das fette Fleisch und rollte sich zusammen, um zu schlafen, als das silberne Himmelslicht ging. Wenn sie aufwachte, würde sie sich den steinernen Bau genauer ansehen.
      "How very fitting that they would build a prison for mages in the middle of a lake and make it look like a giant phallus." (Morrigan)

      „Man kann keine neuen Ozeane entdecken, hat man nicht den Mut, die Küste aus den Augen zu verlieren.“
      (André Gide)