Dornen einer Wüstenrose

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    • Dornen einer Wüstenrose


      Heiße Spur

      Calpheon, während der Nacht
      Eine düstere Gasse

      Es regnet.

      Graue Wolken hängen tief am Nachthimmel. Satte Tropfen prasseln auf das glitschige Kopfsteinpflaster. Eine klirrende Kälte kaut sich gefräßig durch meine klatschnasse, klebrige Kleidung und kriecht mir unter die Haut wie ein lästiges Insekt.

      Es ist mir egal. Ich zittere nicht einmal. Starre bloß in die düstere Gasse, die in das diffuse Licht des Sichelmonds gehüllt ist.

      Beobachtend. Wartend.

      Ich weiß nicht, wie spät es mittlerweile ist oder wie lange ich schon im finsteren Schatten des Torbogens stehe. Meine Fingerkuppen, die in glattes, schwarzes Leder gehüllt sind, scharren hinter meinem Rücken ungeduldig über das alte, schäbige Backsteingemäuer, gegen das ich lehne. Ich bilde mir ein, dass meine Stiefelsohlen am steinigen Boden festkleben – dort, wo die Nacht zuvor ein gewisser jämmerlicher Teppichhändler von einer gewissen stinkwütenden Hexe und ihrem Stiefel leckenden Schoßhund ermordet wurde. Was wohl mit dem Leichnam des törichten Dummkopfs geschehen ist? Ich weiß es nicht und ein flüchtiger Blick unter meine Füße offenbart nichts über sein Schicksal. Das dickflüssige, rote Blut ist längst hinfort gespült und auch sein stümperhaft abgeschnittenes Ohr ist nirgends zu sehen. Vielleicht haben hungrige Ratten ihm das Fleisch von den Knochen genagt. Vielleicht hat Rawhiti in ihrer blanken, rohen Wut ihre messerscharfen Krallen an ihm gewetzt oder ihrer wortkargen Kampfhündin noch die eine oder andere Lehrstunde im Leichenzerstückeln erteilt. Wie fürsorglich. Egal. Es ändert nichts daran, dass Darek nicht mehr unter uns weilt.

      Es ist lächerlich, wirklich. Dass dieser dumme Narr es zuließ, dass irgendein dahergelaufenes Gör einen Blick auf die Schatulle von Avarok erhaschen konnte und damit nicht nur sein Schicksal besiegelte, sondern auch das zweier geliebter Menschen. Geliebte und Sohn, erstickt am süßen Geschmack des Gifts. Der Junge war erst zwölf Sommer alt, sagte man mir. Bedauerlich. Ein unnötiger Tod, der durchaus zu vermeiden war. Aber die Schwarze Zunft ließ mir keine andere Wahl. Und Jaheem schon gar nicht.

      Jaheem.

      Ich beiße allein bei dem Gedanken an ihn die Zähne zusammen. Knirsche. Mahle. Spüre die Kaumuskeln an meinen Schläfen pochen wie das Blut, das kochend durch meine Adern fließt. Ich frage mich, wie lange es noch dauert, bis ich dieses kranke Fleisch, dieses wuchernde Krebsgeschwür namens Jaheem aus meinem Körper reißen kann. So, wie er mir Farah aus den Armen riss, als sie noch keine zwei Tage alt war.

      Für einen kurzen Moment schließe ich die Augen. Horche, wie der Regenschauer auf das Kopfsteinpflaster trommelt und eine ominöse Melodie spielt. Gestatte mir – ausnahmsweise - einen Moment der Schwäche und erinnere mich an sie. An ihren unvergleichbaren Geruch. Die zarte, noch leicht schrumpelige Haut. Wie sie friedlich eingerollt auf meiner Brust schläft. Ein sanftes Lächeln stiehlt sich auf meine ausgekühlten Lippen und mir wird wieder klar, weswegen ich hier eigentlich stehe und warte.

      Ich werde dich finden, koste es, was es wolle. Egal, über wie viele faule, aschfahle Leichen ich gehen muss. Egal, was mir dabei zustößt, solange ich für deine Sicherheit sorgen und dir das Leben ermöglichen kann, das mir immer verwehrt blieb. Das verspreche ich dir.

      Ein tief grollendes, ohrenbetäubend lautes Donnern wirbelt mich zurück in die Realität. Ich zucke erschrocken zusammen, reiße wieder die Augen auf und blicke mich hektisch um. Schlucke kurz und atme erleichtert aus, als ich nichts und niemanden sehe und mich wieder beruhige. Ein Blitz flutet die düstere Gasse für einen kurzen Moment in gleißend helles Licht und blendet mich. Dann entdecke ich sie - eine verschwommene Silhouette, die sich mir ruhigen, gelassenen Schrittes nähert.

      Es ist Eramis.

      Endlich.

      Er ist groß und schlaksig, genauso wie ich ihn in Erinnerung habe. Ein gefächerter Poncho aus glattem, kaffeebraunem Leder schlackert mit jedem seiner großzügigen Schritte um seine knochigen Knie. Nur die endlos langen, dürren Unterschenkel, die kniehoch in Lederstiefeln sitzen, offenbaren mir, wie hager seine Gestalt wirklich ist. Ein spitzer Hut, dessen Zipfel leicht nach hinten geknickt ist, hängt ihm tief ins Gesicht und hüllt seine zweifelsohne kantigen, markigen Züge in düstere Schatten.

      „Du bist allein?“, frage ich mit ruhiger Stimme, als er unter den Torbogen schreitet, „keiner ist dir gefolgt?“

      Eramis bleibt augenblicklich stehen. Dreht seinen Kopf in einer kaum merklichen Bewegung zu mir. „Ich bin kein Amateur“, antwortet er amüsiert, „du verletzt mich.“ Seine Stimme ist flüssig und samtig wie Honig und er grinst mich schief an.

      Ich drücke mich mit flachen Handflächen vom bröckeligen Mauerwerk ab. Verschränke meine triefend nassen Arme vor der Brust und trete leichtfüßigen Schrittes aus dem Schutze der Dunkelheit hervor. Drei knochige, braun gebrannte Finger schütteln sich aus Eramis‘ Poncho und heben den Hut etwas an, sodass ich direkt in sein Gesicht blicken kann. Kühle, silbrige Augen mustern mich für eine Weile eindringlich. Es ist, als blickte er direkt in die ausgeschabte, leere Hülle meiner Seele und ich muss mich ziemlich zusammenreißen, um keine Miene zu verziehen.

      'Lege dir eine Maske zu‘, hallen die Worte einer nur allzu vertrauen, kalten Stimme in meinem Kopf wider, 'deine emotionalen Entgleisungen, so klein sie auch sein mögen, verraten dich.' Fragmente der Vergangenheit, staubig und blass, ploppen auf wie ein zweiter Blitz am wolkengrauen Himmel.

      Eine hölzerne Schatulle. Sprießendes, heißes Blut an meinem Hals. Baumelnde Füße auf einer Lehmhütte. Eine warme, salzige Umarmung. Ein Flüstern: 'Ich will nicht mehr zurück.'

      Rhaida.“

      Eramis zerrt mich ins Hier und Jetzt zurück. Ich blinzele ihn verdutzt an.

      „Hast du es dir anders überlegt?“

      Er fuchtelt mit einem labberigen Stück Pergament vor meinem Gesicht herum. Seine Stirn ist in Falten gelegt. Verwundert. Fragend. Skeptisch.

      Ich starre den alten, vergilbten Fetzen für einige Sekunden einfach nur an und sage nichts. Fühle, wie mir ein kalter, klammer Schauer langsam über den Rücken kriecht. Wie mein Herzschlag wilder und wilder gegen meinen Brustkorb hämmert. Wie mein Hals staubtrocken wird und ein klebriger Klumpen meine Kehle verstopft.

      „Nein“, flüstere ich und reiße ihm das Stück Papier regelrecht aus den Händen. Ich traue mich kaum, es aufzufalten und die krakelige Schrift von Eramis zu lesen, doch die Neugierde überwiegt. Die Hoffnung. Die blanke Angst.

      Als ich die Nachricht mit hungrigen Augen aufsauge, weicht mir alle Kraft aus den Muskeln. Ich kriege keine Luft mehr. Ich atme, aber ich ersticke, als zerquetschte etwas meine Rippen. Zwei Worte schälen sich wie hungrige Maden in meine Haut und fressen sich durch mein Fleisch:

      Epheriaport. Freudenhaus.

      Jaheem, du Monster. Das wirst du büßen.


      Noot noot!

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    • Ungewissheit

      Auf dem Weg nach Epheriaport, am späten Morgen
      Ein abgelegener, unheimlicher Trampelpfad

      Es ist neblig.

      Kalte, feuchte Luft füllt meine Lungen. Ein Überbleibsel des gestrigen Regens, genauso wie die grauen Wolken am Himmel, die ich mir aufgrund des dichten Nebels nur noch vorstellen kann. Ich atme tief ein und genauso tief wieder aus. Sehe mich um. Betrachte die kleine Wolke aus heißer Atemluft, die sich schnell wieder im Nichts auflöst. Anders als letzte Nacht sitzt mir die Kälte heute tief in den Knochen. Ich fröstele. Zittere. Presse meine in glattes, schwarzes Leder gekleideten Arme fester in meine Seiten, doch es bringt natürlich nichts. Die klirrende Kälte krabbelt mir durch die Stoffschichten hindurch weiter bis unter die Haut und verharrt dort. Störrisch und hartnäckig.

      Ich lausche dem Wald um mich herum. Es ist weit und breit nichts zu hören. Kein Flüstern des kalten Windes. Kein unheilvolles Rascheln der Baumkronen. Nicht einmal die Laute eines Tiers. Eine unheimliche Stille, die meine Ohren betäubt. Ich frage mich, ob ich wirklich alleine hier bin. Ob diese beklemmende Atmosphäre nicht die Ruhe vor dem Sturm ist. Ob er hier irgendwo vielleicht auf mich lauert.

      „Was für ein Quatsch“, flüstere ich und schüttele den Kopf, ein verächtliches Grinsen auf den Lippen, „du siehst schon Geister, Rhaida. Er würde niemals persönlich einen Finger krümmen.“

      Es ist natürlich keiner hier. Keiner außer der prächtigen, alabasterweißen Stute, auf der ich sitze. Sie fächert die Nüstern auf und schnaubt leise. Wackelt unruhig mit dem Kopf und wirft die glatte, feucht glänzende Mähne zurück als sei sie beleidigt. „Keine Sorge, Große“, flüstere ich und klopfe ihr auf den kräftigen Hals, „ich weiß schon, was ich an dir habe.“

      Sie schreitet tiefer in den hungrigen Bauch des Waldes und lockert den weichen, breiigen Dreck des Erdbodens mit ihren Hufen auf. Der weiße, dichte Nebel, der uns beide umhüllt, macht mich blind und orientierungslos. Ich starre ins Nichts. Kneife die Augen zusammen, um irgendetwas zu erkennen. Gruselige Silhouetten drücken sich um uns herum mit dürren, knorrigen Klauen gegen den weißen Schleier, der uns wie ein Tuch umwickelt, als wollte er uns ersticken. Dann bemerke ich, dass die Schemen bloß wildes Gestrüpp und kahle, kränklich wirkende Nadelbäume sind, die am Rande des Trampelpfads wie fleischlose, knochige Skelette aus dem Erdboden ragen. Offensichtlich habe ich heute eine besonders rege Fantasie dafür, dass mein Kopf so leer und doch so voll ist mit Gedanken an das, was mich in Epheriaport erwartet.

      Ich weiß nicht mehr, wo ich bin. Bloß, dass es der richtige Weg ist. Der einzige Weg. Ein abgelegener, unheimlicher Trampelpfad zwischen Calpheon und Epheriaport, der kaum jemandem bekannt ist und selten genutzt wird - perfekt dafür geeignet, um unbemerkt zum Fischerdorf zu gelangen.

      Er darf nicht wissen, dass ich komme. Es wäre dein Todesurteil. Wenn er ahnt, was ich vorhabe, wird er dich in die Dunkelheit hinfort reißen und dich mir für immer wegnehmen. Ich kann das nicht zulassen. Nein, ich werde das nicht zulassen. Kein zweites Mal.

      Meine Finger sind steif vor Kälte. Ich greife in die innere Brusttasche meines Ledermantels und fische das labberige Stück Pergament heraus, das Eramis mir gestrige Nacht übergab. Lese die Nachricht erneut. Vermutlich schon zum hundertsten Mal.

      Epheriaport. Freudenhaus.

      Zwei Worte, die mein Herz mit einem Kaleidoskop an Gefühlen überfluten.

      Wut. Triefender, roher Hass. Rache, die sich wie eine fleischfressende Made genüsslich durch mein Herz schabt und sich dabei sehr viel Zeit lässt.

      Angst. Schmerz. Reue. Schuld. Weil ich zuließ, dass er dich mir wegnahm. Dass er dich wie ein fettes, gut gemästetes Vieh in eine Grube hungriger Löwen warf. Du bist doch noch so jung. Zu jung für diese kranke, schmutzige Welt.

      Mir wird speiübel bei diesem Gedanken. Ich spüre, wie mir das Blut aus dem Gesicht weicht und ich leichenblass werde. Kalte Schweißperlen laufen mir die Schläfen hinab, glasige Augen starren in die Leere. Was habe ich nur getan? Warum habe ich das nur zugelassen? Du bist mein Fleisch und Blut und ich hätte dich beschützen müssen. Doch ich tat nichts dergleichen. Ich habe nur zugesehen und es geschehen lassen. Tust du das auch? Wenn sie in dein Zimmer treten und dich ekelhaft angrinsen? Ich kann nicht verhindern, dass mein Kopf einen Pinsel greift, ihn in dicke, schwarze Farbe taucht und ein Bild des Grauens malt, das sich mir ins Hirn brennt und mir das Herz zerreißt.

      Etwas Heißes fließt mein Gesicht hinab. Ich weiß, was es ist und wische es hastig mit dem Handrücken weg. Ich darf jetzt nicht schwach sein. Meine Schwäche hat dich erst in diese Situation gebracht. Ich spüre, wie meine Nase läuft und blinzele die salzige Flüssigkeit, die in meinen Augen aufquillt, hastig hinfort. Jetzt ist nicht die Zeit dafür. Ich muss mich zusammenreißen. Gottverdammt noch mal, Rhaida, reiß dich am Riemen.

      Ich atme die kalte, feuchte Luft tief ein und schließe die Augen. Halte still.

      Dieses Schicksal habe ich für dich nie gewollt, Farah. Alles, bloß nicht das. Er bestraft eigentlich mich damit, weil er genau weiß, was es in mir auslöst. Streut Salz in meine einzige Wunde, die bis heute offen und blutig und eitrig klafft und einfach nicht abheilen will. Egal, wohin ich gehe. Egal, was ich tue. Egal, in welche Rolle ich schlüpfe – meine eigene Haut kann ich niemals abstreifen. Und dich konnte ich nie vergessen. Das weiß er ganz genau.

      Jaheem.

      Zuerst werde ich dich dort herausholen und in Sicherheit bringen. An einen Ort, an dem er dich niemals finden wird. Und dann knöpfe ich ihn mir vor.

      Darauf kann er Gift nehmen. Und zwar ein möglichst qualvolles.

      Plötzlich stößt mir ein salziger, fischiger Geruch in die Nase und reißt mich aus der Flut an hasserfüllten Gedanken. Widerlich. Das stinkt ja wie die fauligen Überreste eines ganzen gottverdammten Wals. Ich rümpfe aus Ekel die Nase und stoße sachte die Hacken meiner Stiefel in die Seiten der Stute, damit sie spurt.

      Epheriaport kann bei diesem üblen Fischgestank nicht mehr weit sein.

      Das wild trommelnde Herz in meiner Brust sackt mir bei dem Gedanken irgendwo in die Magengrube. Ich weiß nicht mehr, was ich fühle. Oder fühlen soll. Angst? Hoffnung? Aufregung?

      Was immer es ist, es spielt keine Rolle. Du bist das einzige, was zählt, Farah. Gedulde dich nur noch ein wenig. Ich bin gleich da.

      Noot noot!

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    • Jaheem, Part I

      Calpheon, irgendwann nachts
      In einem verlassenen Haus

      Es regnet.

      Draußen ist es stockfinster. Nass und kalt. Weit und breit ist keine Kerzenflamme in den Fenstern der Bewohner zu sehen. Keine Menschenseele auf den Straßen der Stadt. Stattdessen wabert eine unheimliche Stille in der Luft. Unheilvoll. Erdrückend. Wie ein hungriges Raubtier, das auf der Lauer liegt und nur darauf wartet, zuzuschlagen.

      Calpheon schläft. Tief und fest. Und nur ich bin wach und starre ins dunkle, kalte Nichts.

      Ich stehe am Fenster und warte. Unruhig. Ungeduldig. Nervös. Die Ungewissheit, die sich mir in die Magengrube frisst, rührt in meinen Gedärmen wie ein Löffel in einem köchelnden Topf.

      Wo bleibst du Mistkerl bloß?

      Ich frage mich, wie viel Zeit wohl mittlerweile vergangen ist. Ob es drei Minuten oder drei Stunden her ist, seit ich dieses alte, bröckelige Haus betrat und die Stufen ins obere Geschoss aufstieg. Es ist staubig und dreckig hier. Dunkel und still. So still, dass ich förmlich hören kann, wie wild mein Herz gegen das knochige Gerippe meines Brustkorbs trommelt. Die trockenen, brüchigen Holzbretter unter meinen Stiefelsohlen knarzen mit jeder unruhigen Bewegung, die ich mache. Auch als ich mich zur offen stehenden Tür umdrehe, an der niemand steht. Dann sehe ich mich im Zimmer um, um die Zeit irgendwie totzuschlagen. Sehe große, ockerfarbige Leinentücher, die schäbige Stühle aus Holz bedecken. Zur Stirnseite hin ruht ein kalter Kamin aus Ziegelstein. Auf seinem Sims steht ein zersprungener Blumentopf, aus dem alte Erde bröselt. Er ist ansonsten leer und war wohl lange nicht mehr der Nährboden für eine Pflanze. Davon abgesehen befindet sich nichts mehr hier.

      Ich drehe mich wieder um. Meine nackten Fingerkuppen graben sich in die Fensterbank und ich fluche leise auf, als sich mir ein abgeplatzter Holzsplitter in das weiche Fleisch bohrt.

      „Verflucht noch mal!“, presse ich durch meine zusammengeknirschten Zähne und ziehe mir das Stück Holz vorsichtig aus dem Zeigefinger, bis mir vor gleißendem Schmerz die Tränen in die Augen schießen. Wütend pfeffere ich den gottverdammten Splitter über meine Schulter. Ignoriere das dickflüssige Blut, das in Zeitlupe auf die Fensterbank tropft, und fische stattdessen ein zusammengefaltetes Stofftuch aus meiner Manteltasche, in das ich behelfsmäßig meine Fingerkuppe einwickele.

      Hoffentlich bist du gleich da, Jaheem. Ich bin es leid, ewig auf dich zu warten. Schlaflose Nächte liegen bereits hinter mir. Nächte voller Ungewissheit. Hoffnung. Furcht. Ich muss endlich wissen, was du mit ihr gemacht hast.

      Meine kleine Farah. Ich habe solche Angst um dich. Wo bist du nur? Wo hat er dich bloß hingebracht? Was hat er dir angetan? Geht es dir überhaupt gut?

      Ich schlucke. Ein klebriger, mehliger Klumpen steckt mir im Halse fest. Schnürt mir die Kehle zu. Erstickt mich. Ich kann nicht atmen. Kann nicht denken. Was, wenn dir etwas zugestoßen ist? Wenn er seine Drohungen wirklich wahrgemacht hat?

      Allein bei dem Gedanken wird mir speiübel. Ich habe versagt. Auf ganzer Linie. Ich war dir nie die Mutter, die du verdient hast. Und habe dich womöglich ins Verderben gestürzt durch meine Unachtsamkeit und Dummheit.

      Epheriaport. Freudenhaus.

      Das alte, labberige Stück Pergament, auf dem diese Worte in Eramis‘ krakeliger Schrift niedergeschrieben standen, ist fort. Es ruht im Kamin hinter mir. Zu kalter, grauer Asche zerfallen, wie die unzähligen Leiber, die ich dem Tod opferte. Keiner wird sich jemals seiner Existenz bewusst werden. Keiner wird wissen, dass ich es besaß. Nicht, dass es eine Rolle spielen würde. Er weiß es ohnehin. Er wusste es die ganze Zeit. Deswegen bist du jetzt in Gefahr, mein geliebtes Kind.

      Jaheem wusste, dass ich dich aufgespürt habe und kommen würde, um dich aus seinen Klauen zu befreien. Zwar weiß ich noch nicht, wie er an diese Information gelangte und mir auf die Schliche kam. Ich war so vorsichtig – zumindest dachte ich törichtes Weib das. Doch die Tatsache, dass du fort gebracht wurdest, kurz bevor ich in Epheriaport eintraf, kann kein Zufall gewesen sein. Er wusste Bescheid. Und ich werde herausfinden, wieso.

      Dicke Wassertropfen prasseln gegen das Scheibenglas. Trommeln eine dumpfe Melodie, die wie eine ominöse, bizarre Kakophonie Jaheems Ankunft beschwört. Sie zerplatzen auf dem harten Glas in dutzende Fragmente ihrer selbst. Malen mit ihrem wirren Fluss ein lebendiges Gemälde auf die schmutzige Oberfläche, das sich stetig verändert und niemals gleich bleibt. Einzig das blasse, kränkliche Gesicht, das sich darin widerspiegelt, bleibt konstant. Das Gesicht einer fremden Frau, die mich mit glasigem Blick anstarrt und nichts sagt.

      Blass siehst du aus, Rhaida. Blass und fahl wie ein kalter, starrer Leichnam. Und müde. So unendlich müde mit deinen erschöpften Augen und deinen dicken Tränensäcken. Rhaida. Die Wüstenrose aus Valencia. Agentin der Schwarzen Zunft. Meisterin der Maskerade und Manipulation. Giftmischerin.

      Rabenmutter.

      Hast du dich damals auch so hilflos gefühlt, Rawhiti? Als ich damals vor all diesen Jahren von einem Tag auf den anderen spurlos verschwand und du mich verzweifelt gesucht hast? Als du nicht wusstest, was mit mir geschehen war? Als du mich nicht fandest?

      Du weißt es nicht, aber ich habe damals an dich geglaubt. Bedingungslos. Unerschütterlich. Ohne jeglichen Zweifel, zum Trotze der anderen Mädchen, die mir mit ihren giftigen Worten einreden wollten, dass ich dir egal sei. Dass du mich im Stich lassen und vergessen würdest. So, wie ihre Familien es bei ihnen getan hatten. Aber ich Sturkopf wollte nichts davon hören. Du warst meine Hoffnung, Rawhiti. Allein der Gedanke, dass du mich niemals aufgeben und mich suchen würdest, hielt mich am Leben. Ließ mich alles ertragen.

      Die lüsternen Blicke der alten Männer, als ich wie fett gemästetes Schlachtvieh zur Schau gestellt und ersteigert wurde. Die gierigen, dreckigen Hände, die mich blutig schlugen und mir Knochen brachen. Mir brutal die Kleider vom kleinen Leib rissen und mich überall anfassten. Die haarigen, nach kaltem Schweiß stinkenden Männerkörper, die sich auf mich legten und mich schändeten. Immer und immer wieder. Das angestrengte Grunzen und die widerlichen Befehle, die mir ins Ohr geflüstert wurden.

      Du warst damals meine Zuflucht. Meine Geborgenheit. Mein Zuhause. Du hast mir alles bedeutet. Und ich wollte nicht wahrhaben, dass ich dich niemals wiedersehen würde. Dass ich für immer dort gefangen sein würde. Es hätte mir in dieser Hölle jeglichen Willen zu leben geraubt.

      Ich weiß nicht, was die Zukunft für uns beide bereit hält. Du weißt jetzt, wer ich wirklich bin. Oder vielmehr, wer ich damals war. Die Zeit wird zeigen, ob sich unser beider Leben wie die dornigen Äste eines Wüstenstrauchs wieder ineinander flechten oder ob wir getrennte Wege gehen. Uns fremd bleiben. Mit der Vergangenheit abschließen. Wir sind andere Menschen geworden, das ist mir bewusst, und ich würde es dir nicht übel nehmen, wenn du nichts mit mir zu tun haben willst nach all den Jahren. Aber tief in meinem Herzen wünsche ich mir, dass wir wieder zueinander finden.

      Dass ich dir wieder etwas bedeute.

      Ich fasse mir an den Hals. Streiche über das narbige, gezackte Gewebe, das meine Haut dort durchzieht. Spüre, wie sich ein sanftes Lächeln auf meine Lippen legt.

      Ich würde es immer wieder tun, Rawhiti. Ich würde dir-

      Rhaida.“

      Ich zucke zusammen, als ich meinen Namen höre. Fluche innerlich, dass ich ihn nicht bemerkte. Die Stille, in glasige Scherben zersplittert, kehrt für wenige Sekunden wieder zurück.

      „Jaheem. Ich dachte schon, du würdest nicht mehr kommen.“

      Fortsetzung folgt...
      Noot noot!

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    • Jaheem, Part II


      Calpheon, irgendwann nachts
      In einem verlassenen Haus

      Es ist frostig kalt.

      So ist es immer, wenn Jaheem irgendwo auftaucht. Seine furchteinflößende Aura lässt die ohnehin schon kühle Luft schlagartig zu Eis gefrieren, als stünden wir auf einmal im kalten Kellergewölbe, das zwei Etagen unter uns tief in die Erde geschaufelt wurde. Ich fühle, wie sich mir die frostige Luft hungrig unter die Kleidung schält. Stoffschicht um Stoffschicht, als suchte sie Zuflucht vor dem Teufel mit blasser Haut, der sich mit seinen scharfen Krallen gerade an die Oberfläche gegraben hat.

      Harte Stiefelsohlen klackern über das alte, ausgetrocknete Holz des Fußbodens. Das Klimpern von hässlichem Goldschmuck aus den Schmelzen Valencias scheppert mit jedem seiner Schritte. Klack, klimper. Klack, klimper. Ich schließe die Augen und horche. Ermahne mich zur Ruhe und forme aus den zerbrochenen, rissigen Scherben meines aschfahlen Gesichts eine Maske aus Stein. Atme tief durch und ignoriere das wilde Trommelkonzert in meinem Brustkorb, das meine innerliche Unruhe und Aufregung verrät.

      Mittelgroße, lässige Schritte nähern sich mir. Es ist ein selbstbewusster, wenn nicht sogar arroganter Gang, gewürzt mit einer großzügigen Prise Nonchalance, die mir so zuwider ist, dass ich mich am liebsten bekotzen würde. Ich kann es nicht sehen, aber ich weiß ganz genau, dass sein breites Kreuz zweifelsohne kerzengerade, aber nicht verkrampft oder gar steif aufgerichtet ist. Die muskulöse Brust streckt er bestimmt aufgeplustert aus, als sei er ein stolzer, eitler Pfau, der sich wichtigtuerisch zur Schau stellt. Ich kann hören, wie er auf mich zu schlendert und sich dabei bewegt, als gehöre ihm der gesamte Raum. Einnehmend. Selbstgefällig. Als sei er ein wohlhabender und einflussreicher Adeliger, der bloß mit ein paar Goldmünzen um sich werfen und zweimal mit den Fingern schnipsen muss, um alles zu bekommen, was sein gieriges, hungriges Herz begehrt.

      „Verzeih, ich wurde aufgehalten.“

      Seine Stimme ist tief und wölfisch. Er klingt so, als täte es ihm wirklich leid, aber ich kenne ihn mittlerweile zu gut, um ihm das wirklich abzukaufen. Er hat mich absichtlich zappeln lassen wie ein hilfloses, ängstliches Insekt, das in den klebrigen Fängen eines Spinnennetzes bloß auf seinen unausweichlich qualvollen Tod wartet.

      Ich öffne die Augen und drehe mich ruhig zu ihm um. Mit kalkweißen Zähnen grinst er mich an, die Hände lässig in die Taschen seiner labberigen Stoffhose gesteckt. Sein kahl geschorener, stoppeliger Kopf ist schief gelegt und die giftgrünen Augen bitten mich wortlos um Verzeihung.

      „Natürlich“, antworte ich ironisch und schnaube abfällig auf, „du bist ein vielbeschäftigter Mann. Wie könnte ich dir da jemals nachtragen, dass du mich des Nachts stundenlang in dem schäbigsten und dreckigsten Haus in ganz Calpheon warten lässt. Du hattest gewiss nachvollziehbare Gründe dafür.“ Ich lehne mich zurück an die harte, kantige Fensterbank, die sich mir sofort unbequem in den Rücken bohrt, und verharre dort mit beinahe trotzig verschränkten Armen.

      „Ich wusste, du würdest Verständnis haben, meine Liebe.“

      Jaheem ignoriert, dass ich demonstrativ mit den Augen rolle, und kommt zwei, drei Schritte auf mich zu. Er lächelt mich dabei geradezu schadenfreudig an und ich muss mich wirklich am Riemen reißen, um ihm dieses widerliche Grinsen nicht sofort aus dem Gesicht zu schlagen.

      „Du weißt, warum ich hier bin?“

      Meine Zähne mahlen und knirschen aufeinander. Ich kann diesem ekelhaften Stück Abschaum nicht mehr länger in die Augen sehen. Nicht nach dieser schmachvollen Niederlage, mit der ich vielleicht das mir Liebste auf dieser kränklichen, scheußlichen Welt so fahrlässig in Gefahr gebracht habe. Störrisch wie ich bin, blicke ich also stattdessen auf den staubigen Fußboden und nicke bloß wortlos. Aus den Augenwinkeln heraus kann ich aber noch sehen, dass Jaheem grinsend mit dem Kopf schüttelt und mich mit einem leisen „Tze, tze, tze...“ maßregelt, während er an das beschlagene Fenster tritt und eine Weile in die gefräßige Dunkelheit starrt, ohne ein weiteres Wort zu sagen.

      Rhaida, was soll ich bloß mit dir machen? Dass du dummes Ding immer so stur sein musst...“, seufzt er theatralisch und ich würde ihm am liebsten den ganzen Schwall Galle ins Gesicht spucken, der mir wie beißende, scharfe Säure in die Kehle schießt, „die Schlinge um deinen Hals war schon so eng um deinen Hals geschnürt und trotzdem musstest du in deiner Torheit und Arroganz mit dieser sinnbefreiten Aktion vom Galgen aus ins Verderben springen. Was hast du dir dabei nur gedacht? Oder sollte ich vielmehr sagen nicht gedacht?“

      Ich beiße mir feste in die Zunge und fühle, wie der metallische Geschmack von Blut sofort meine Mundhöhle flutet. Reiß dich zusammen, Rhaida. Sag jetzt bloß kein falsches Wort.

      „Farah geht es gut. Noch zumindest. Mach dir also keine unnötigen Sorgen, meine Liebe.“

      Er wischt die kondensierte Feuchtigkeit, die sich auf der Fensterscheibe gesammelt hat, etwas lustlos fort und tut so, als versuchte er durch das frei gemachte Guckloch hindurch draußen etwas auszumachen. Es interessiert ihn aber nicht wirklich. Jaheem spielt bloß die Rolle des gelangweilten, lässigen Gesellen, der mit dir genauso gut belanglos über das Wetter schwatzen könnte, statt über das kostbare Leben eures unschuldigen Fleisch und Blutes, das unfreiwillig zum Spielball eures idiotischen Machtkampfs geworden ist.

      Ich atme erleichtert auf, als ich seine fast schon beiläufig daher geplauderten Worte höre, und sehe es nicht kommen.

      Wie aus dem Nichts schließen sich Jaheems kaffeebraunen Finger plötzlich um meine Kehle und schnüren mir die Luft zum Atmen ab. Ich schreie erschrocken auf und bin so überrumpelt, dass ich mich nicht wehre, als er mich in die bröckelige Wand aus alten Ziegelsteinen schleudert und sich mit seinem muskelbepackten Leib feste gegen mich presst. Der harte Aufprall zwischen meinen knochigen Schulterblättern lässt mir Tränen in die Augen schießen. Prügelt mir den übrig gebliebenen Sauerstoff aus den Lungen und lässt mich verzweifelt nach frischer Luft schnappen. Stattdessen sauge ich den ekelhaften Geruch von gekautem Tabak auf, der aus Jaheems Mund trieft wie gasförmiges Gift.

      „Das ist meine letzte Warnung, du Hure. Ich habe deine Spielchen allmählich satt. Hast du wirklich geglaubt, dass ich nicht dahinterkomme? Dass ich nicht weiß, was du in meiner Stadt treibst?!“

      Ich kann ihm nicht antworten.

      „Vergiss nicht, wer du bist, Rhaida. Du bist mein Werkzeug und tanzt nach meiner Pfeife. Lass dir gesagt sein, dass ich dein aufmüpfiges Verhalten nicht weiter dulden werde. Noch so ein Versuch und ich schlitze Farahs Kehle vor deinen Augen auf. Hast du mich verstanden?“

      Meine Füße zappeln wild umher. Ich hänge in der Luft wie ein frisch gefangener Fisch, der hilflos am Anglerhaken hängt und in Todesangst um sein erbärmliches Leben kämpft. Mir bleibt nichts anderes übrig, als zu nicken. Als mich ihm zu beugen.

      Vorerst.

      „Das will ich doch hoffen. Für dich und die Kleine“, spuckt er mir mit zwei, drei Tropfen seines Speichels ins Gesicht. Lässt dann los, bis ich keuchend und hustend zu Boden falle wie ein nasser Sack. Das trockene, alte Holz des Fußbodens stöhnt knarzend unter meinem Gewicht auf.

      „Ich kontaktiere dich wieder, wenn ich dich brauche“, knurrt er mir noch zu, ehe er zur Tür stampft, „halte dich jederzeit zur Verfügung.“

      Das werde ich. Mit einer scharfen Klinge in der rechten und einer qualvollen, todbringenden Giftmischung in der linken Hand. Und lass dir auch etwas gesagt sein, Jaheem. Du kannst mich nicht brechen. Keiner konnte das und keinem wird es jemals gelingen. Weder meinem Vater, noch Herrn Arik und seinen Kinderschändern oder dir Mistkerl. Du magst mich bloß für eine hübsche Wüstenrose halten. Aber solltest du beim nächsten Mal versuchen, mich aus dem staubigen Sand zu reißen, werde ich dir meine mit Gift getränkten Dornen ins Fleisch jagen.

      Meine Stunde wird noch kommen. Und dieses Mal wirst du mich nicht kommen sehen. Das verspreche ich dir.
      Noot noot!

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