Glisch, in den frühen Abendstunden
Xellesa Ceos' Stirn liegt seit geraumer Zeit in Falten. Nachdenklich blicken die grauen, ermatteten Augen der Frau auf die regungslose Nhouria hinab, welche vor ihr auf einem massiven Eschenholztisch in einem mit Kaminfeuer erhellten Raum liegt. Die Verletzung auf Nhourias mit ewiger Tinte verzierten Arm ist nicht bedrohlich, jedoch bereitet ihr diese im Zusammenhang mit der Bewusstlosigkeit und den erschreckend weggedrehten Augen große Sorge. Ihr Körper und Herz scheinen für das Empfinden der Medizinerin noch im rechten Takt zu schlagen. Doch ihre Seele wirkt weit, weit weg. Verloren in irgendwelchen finsteren Tiefen, aus denen sich Xellesa seit wenigen Tagen selbst hervorkämpft. Stetig im Kampf zwischen ihrer beider Leben.
Als Zedith und als Xellesa Ceos.
Mit einer gewissen inneren Unruhe verschließt die Frau ihre Augen und atmet schwer aus. Krampfhaft hält sie sich an dem Tisch fest, sodass die Knöchel ihrer Hand weiß unter der Haut hervortreten.
Vor einem Tag fand sie bei einem Spaziergang im Sumpf um Glisch ein Buch, welches wohl seit mehreren Jahren vom morastigen Boden verwahrt wurde. Es schien wie vom Schicksal bestimmt, als sie ihr eigenes Tagebuch mit persönlichen Aufzeichnungen während des Krieges zwischen Calpheon und Heidel 275 a.D. fand. Ein Schicksal in Form alter, vertrauter Seelen - jener verstorbener Kameraden, die einst in der Schlacht ihren Tod fanden oder in Xellesas Händen, als sie vergeblich versuchte ihre Leben zu retten.
Sie war im Krieg, das weiß sie nun. Es erklärt ihre Narbe auf dem Rücken, auch wenn die Erinnerung, wie es zu dieser kam, noch immer hinter einem Schleier liegt.
Langsam öffnen sich die grauen Augen wieder und suchen den Raum ab.
Eine Feder und Papier. Sie muss schreiben. Niederschreiben, was heute geschah. Vielleicht hilft es ihr sich zu erinnern oder zumindest ihre Gedanken zu ordnen.
In ihr ist immer noch diese eine Seele, welche so an ihr festhielt, ihr Dinge erzählte, sie förmlich dabei anschrie.
Vor Verzweiflung? Wut? Trauer?
Xellesa kann immer noch spüren, wie die Präsenz der Seele des alten Mannes in ihrem eigenen Geist mit langen, dünnen Fingern scharrt.
Mit Feder, Tintenfass und Papier, welche sie in einer Kommode im selbigen Raum findet, setzt sie sich neben der bewusstlosen Nhouria auf einen Stuhl und beginnt zu schreiben, während sie zumindest über den Körper der Frau wachen kann.
20. Lethemond 283 a.D.
Zwei Tage sind vergangen, seit wir vor den Toren Glischs in einen Hinterhalt gerieten. Seitdem haben wir 3 Leute unserer gewöhnungsbedürftigen Gruppe verloren.
Kaytoh, der fremde Mann aus fernen Landen, Yuyuka mit ihrem treuen Tier Inazuma und Nhouria.
Kaytoh verschwand, wie er gekommen war. Plötzlich und auf leisen Sohlen. Yuyukas Fortgehen jedoch war ein verletzendes Gefühl. Sie richtete sich gegen uns alle. Die Gruppe war bis zuletzt einander fremd und nur die Umstände, verursacht durch Siriaka, führte uns zusammen, doch irgendwie war es auch eine faszinierende Reise. Nicht mehr das Gefühl allein zu sein, verloren in seiner ewigen eigenen Suche nach Antworten.
Nhouria…unser Gespräch am Vortag des Überfalles. Es bedeutet mir viel. Es war ehrlich und offen. Ganz anders, als wie die Frau, die als missgelaunte Pferdehändlerin zu uns stieß.
Xellesa hebt kurz den Kopf und sieht hinüber in Nhourias Gesicht, welches immer noch ohne jegliche Regung verbleibt.
Siriaka ist es zu verdanken, dass wir sie fanden. Das Mädchen quengelte so lange die verbliebenen Gruppenmitglieder an, bis Alierana und Davaab zustimmten, mit ihr nach Nhouria zu suchen.
Ich schloss mich an… irgendwie musste ich helfen, nach allem,was geschehen ist.
Also zogen wir los und fanden nach und nach einzelne Spuren in diesem toten Sumpf. Die anderen erwiesen sich als bessere Fährtenleser. Mich lenkten die Seelen ab, welche wispernd und flüsternd um mich herum zogen. Verstorbene… Soldaten, Bauern …Opfer des Krieges und des Sumpfes. Bis plötzlich alle mit einem Schlag verblassten und da diese eine Seele stand.
Es war anders. Eine schimmernde Silhouette eines älteren, hageren Mannes, mit dünnen langen Haar, welcher mich durchdringend ansah und nicht von meiner Seite wich.
Immer wieder sagte er mir:
„Das kann nicht sein! Ich war niemals ungerecht oder gewalttätig! Ich erinnere mich doch an nichts!“
Trotz meines Versuches, dies zu ignorieren, blieb diese anders wirkende Seele hartnäckig.
„Ich hab sie doch lieb! Ich hätte ihnen doch niemals weh tun können! Ich erinnere mich einfach nicht, verstehst du?!“
Eine so hartnäckige Seele habe ich noch nie in den letzten 7 Monaten getroffen. Nicht, seitdem ich als Zedith erwachte. Doch die Seele wich mir nicht von der Seite und wurde immer lauter. Aggressiver. Bedrohlicher.
„Wie kann ich für etwas verantwortlich sein, an das ich mich nicht erinnere?“
Es war der Moment, als ich die Fassung verlor, mich nicht zurückhalten konnte. Ich musste diese Seele los werden. Irgendwie. Ich schrie und erschreckte damit Alierana, welche sich um mich bemühte.
Mich versuchte zu beruhigen. Doch sie konnte mir nicht helfen. Siriaka und Davaab waren zu diesem Zeitpunkt irgendwo hinter uns im Nebel. Wer weiß schon, was sie nun über mich denken. Sie werden meine Schreie gehört haben. Doch es half nichts. Er blieb hartnäckig. Redete immer weiter und weiter. Schrie mich stattdessen an.
„Wirklich, ich weiß nichts mehr! Ich hab alles vergessen! Glaub mir doch! Ich erinnere mich nicht!“
„Sie hat mir nicht geglaubt, weißt du?“
Diese abartige Empörung, sie widerte mich aus einem tiefsten Gefühl an, als hätte ich diese Heuchlerei irgendwann einmal selbst erlebt. Ich versuchte ihm auszuweichen, ging weiter, doch er folgte mir und flirrte wie der Dunst des Nebels um mich herum. Dann folgten die Worte, welche mich erstarren ließen.
„Du kannst dich nicht erinnern, ich weiß, ich weiß! ...Ich weiß es, ich habe es genauso gemacht!“
Nichts dergleichen tat ich mit Absicht. Ich brüllte meine Wut dieser verdammten Seele entgegen und endlich, nach qualvollen Minuten seiner Anwesenheit, verblasste dieser Mann und zog fort in die Nebel.
...
Wir fanden Nhouria. Versteckt und verletzt in einer Höhle unweit der Fördermühlen nordöstlich von Glisch. Eine blutbefleckte Klinge lag neben ihr und ihr Arm war verletzt. Ihr Körper war durchsetzt von Nässe, mit völlig weggedrehten Augen und ohne Bewusstsein.
Ich sah nur die Klinge und befürchtete das Schlimmste.
Davaab half, trotz seiner Verletzung und schleppte Nhouria zurück nach Glisch, wo ich sie gemeinsam mit Hilfe von Alierana versorgen konnte.
Alierana… sie half mir, Nhourias Wunden zu versorgen.
Ich habe auf unserer gemeinsamen Flucht bisher nicht viel über sie erfahren können. Sie kannte sich gut mit der Natur aus. Wusste, welche Beeren und Wurzeln essbar waren und welche nicht. Ich erinnere mich, wie sie beim Überfall auf uns stocksteif vor Furcht war und auf einmal war da... etwas anderes an ihr.
„Ich verfüge nur über die Kraft des Windes.“
Dies sagte sie mir, während sie den Arm Nhourias reinigte und mich hilflos ansah, als ich meine Diagnose über den Zustand von Nhouria stellte.
War es das, was ich aus meiner Deckung hinter der steinernden Mauer sah? Als wie aus dem Nichts einer der Soldaten von den Füßen gerissen wurde, als wäre eine fremde Macht im Spiel?
Während wir uns um Nhouria kümmerten, sah ich aus den Augenwinkeln, wie Davaab ein scheinbar ernstes Gespräch mit Siriaka führte. Die Kleine hatte wohl wieder etwas in ihrem Besitz, was ihr nicht rechtens gehörte.
Davaab, der Riese, welcher in mir Freude aber auch Vorsicht auslöst. Zinto respektiert diesen Mann und scheint sich wohl mit ihm auf eine spezielle Art und Weise gut zu verstehen. Das beruhigt mich bis zu einem gewissen Grad. Auch wie sehr er sich um die kleine Siriaka kümmert.
Wie ein fürsorglicher Vater, der sich um sein Fleisch und Blut kümmert und sorgt.
Bei diesen Zeilen stockt die Frau für einen Moment, ihr Blick wird fahrig.
Ich versorgte seine Wunden, für die die Bogenschützen beim Überfall verantwortlich waren. Sein Fleisch scheint stark und er wird sich wohl recht schnell wieder erholen können, solange er den Arm nicht unnötig belastet. Und solange Siriaka nichts von ihm abfordert.
Ich sehe Siriaka nun mit anderen Augen.
Als ich ihre Worte hörte, sie habe keine Eltern, sie habe sie verloren, überkam mich ein Gefühl, als würde innerlich mein Herz in tausend Splitter zerbrechen.
Ich erfuhr durch meine eigene alte Niederschrift, aus meinem anderen Leben, dass ich Mutter bin oder vielleicht sogar war.
Erijon und Leyla.
Ich weiß nicht, wie alt sie nun sein mögen oder ob sie den Krieg überstanden haben. Sie befanden sich zuletzt in Heidel… Aber dies war vor 8 Jahren.
Ob sie noch immer dort sind. Bei meinem Mann?
Khaled… vor dem ich fortgelaufen bin?
„Eine kopflose Flucht. Weg von den vergangenen sieben Jahren. Bin ich letztendlich vor mir selbst davon gelaufen?
Auch wenn ich im Innersten weiß, dass ich diese Entscheidung richtig traf, so rannte ich von meiner Verantwortung gegenüber meiner Kinder und Vertrauten davon. Ich überließ sie den zornigen Händen Khaleds.“
Seine Sünden sind schwer, erinnere ich mich an meine eigenen niedergeschriebenen Worte.
Welche Sünden?
Tief in meinem Innersten fühle ich ein Unbehagen, nahezu einen Groll gegen diesen Namen.
Khaled.
Bereits vom ersten Moment an, als Hannah mir diesen Namen nannte.
Sie und Melvin kennen mich schon lange, wie sie sagten. Sie gehören zur Leibgarde Khaleds aus Heidel. Doch tief in ihren Innersten spürte ich Respekt. Respekt und Achtung vor mir. Ich kann mir bisher nicht erklären was es damit auf sich hat.
Calpheon…
Hannah fragte mich ob ich bald zurück nach Calpheon gehen würde. Zurück zu Haus Ceos.
Was ist dort? Was oder wer erwartet mich dort?
Ich werde dem bald nachgehen.
Xellesa Ceos legt die Feder und das beschriebene Papier beiseite und stützt ihren Kopf auf beide Handflächen ab. Salzige Tränen laufen aus ihren Augenwinkeln und tropfen nach und nach auf das Holz der Dielen. Für einen Moment bleibt sie regungslos so zusammengekauert sitzen.
Nach einer Weile richtet sie ihren Oberkörper auf und sieht mit ihren grauen feuchten Augen zu Nhouria hinüber.
Dieser Beitrag wurde bereits 10 mal editiert, zuletzt von BorgGiXtah () aus folgendem Grund: Fehlerhexe