Geschichten von Siriaka

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    • Geschichten von Siriaka

      Diebesgut


      Mit Herzklopfen stand Siriaka vor der Tür zur Taverne. Gestern Nacht hatte sie dort gegessen und die Leute in der Taverne beobachtet. Ein Mann hatte Bier im Akkord bestellt und getrunken und so war er in den dreißig Minuten, die Siri benötigt hatte, um ihr Stück Geflügel zu verschlingen, zunehmend besoffener geworden. Sie hatte die Gelegenheit genutzt und nachdem er gezahlt hatte, war es für sie ein leichtes gewesen, ihn um seinen Geldbeutel zu erleichtern. Zu ihrer Enttäuschung war er nicht mehr prall gefüllt, sondern er hatte nur noch drei Silbermünzen bei sich. Das Mädchen entnahm die Münzen und steckte sie in die Tasche ihres Kleidchens. Den Beutel warf sie draußen in das Gebüsch, damit ihr niemand auf die Schliche kommen konnte.

      Der Plan war gut, der Lohn bescheiden, doch am Ende ging alles schief. Heute waren sie endlich losgegangen, um Nhouria zu suchen. Es war Siri schwergefallen, nicht zu sehr darum zu betteln, denn sie wollte nicht den Eindruck machen, dass sie die Pferdehändlerin mochte. Denn eigentlich tat sie das gar nicht, denn sie war gemein und garstig zu ihr gewesen. Aber irgendetwas war an der Frau dran, aus irgendeinen Grund war es ihr lieber, dass Nhouria bei ihnen war und nicht alleine irgendwo herumlungerte. Vielleicht mochte sie die Frau ja doch. Aber nur ein Bisschen! Jedenfalls konnte sie Davaab, Alierana und Zedith, Xellesa, Zedithesa oder wer auch immer sie nun war, überzeugen, heute loszugehen.

      Im Regen rutschte Siri aus und saute sich ihr Kleidchen mal wieder mit Matsch ein. Aber sie konnten Nhouria in einer Höhle finden und zurück nach Glisch bringen. Die Frau war verletzt, aber Xellesa und Alierana kümmerten sich um sie. Siri war von Haaransatz bis zum kleinen Zeh vollkommen durchnässt und ihr war fürchterlich kalt gewesen, auch wenn sie das niemals zugeben durfte. Also zog sie ihr Kleidchen aus, um es, genauso wie sich selbst, vor dem Kamin zu trocknen. Und da geschah das Missgeschick. Die drei enteigneten Silbermünzen fielen heraus und gemeinerweise klimperten sie auffällig am Boden. Wäre alles nicht so schlimm, wenn Davaab das nicht gesehen und ausnahmsweise auch mal eins plus eins richtig zusammengezählt hätte. Aber er hatte und wollte wissen, woher die Münzen kamen. Und wie der gute Riese nun mal so war, überzeugte er Siri dazu, die Münzen zurückzugeben. Und darum war sie jetzt vor der Taverne mit rasendem Herzen, denn weder wollte sie die Münzen wirklich zurückgeben, noch freute sie sich auf die Reaktion der Wirtin.

      Siriaka seufzte lautstark, um ihrer Nervosität Ausdruck zu verleihen. Ein Bauer, der gerade herauskam, blickte sie verwundert an, aber bevor er etwas sagen konnte, huschte sie an ihm vorbei in das warme Innere der Taverne. Denn draußen war das Wetter noch immer arglistig und schüttete immer wieder kübelweise Wasser zu Boden. Als erstes griff das Mädchen in die Tasche, um den Stift, den sie gestohlen, nein, ausgeborgt hatte, wieder zum Gästebuch zurückzulegen und dann, um die drei Münzen hervorzuholen. Sie spurtete zur Wirtin und hielt ihr die Münzen hin.
      Die ältere und beneidenswert wohlgenährte Frau sah das Mädchen verwundert an und meinte: „Was willst du haben?“
      „Nichts“, entgegnete Siriaka.
      „Wofür dann das Silber?“
      „Das gehört dem Mann, der gestern so viel Bier getrunken hat, er hat es verloren und ich will es zurückgeben.“
      „Oh“, die Wirtin lächelte freundlich und nahm die Münzen an. „Da wird er sich sicherlich darüber freuen. Ich gebe es ihm heute Abend. Er kommt ja fast jeden Tag hierher.“
      Siri nickte und machte eine schwungvolle Kehrtwendung, um aus der Taverne zu flüchten. Davaab wollte sicherlich, dass sie die Wahrheit sagte, aber der Mann war ja nicht da und die Wirtin musste es ja nicht wissen. Beinahe hatte sie die Tür erreicht, als sie nochmals die Wirtin vernahm.
      „Siriaka?“, rief die der Kleinen nach. Siri überlegte, ob sie einfach nach draußen stürmen sollte oder sich doch lieber der Wirtin stellen. Angriff oder Flucht, Angriff oder Flucht? Sie drehte sich erneut schwungvoll um, sodass ihr Zopf regelrecht durch die Luft peitschte.
      „Ja?“, fragte sie mit dem besten Unschuldsblick, den sie aufbringen konnte.
      „Warum hast du ihm die Münzen nicht selbst gegeben, du bist ja vor ihm gegangen?“
      Verfluchtes, schlaues Wirtsweib! Das hatte Siri bei ihrer Geschichte nicht bedacht. Wer denkt denn schon daran, dass eine einfache Wirtin so aufmerksam ist?
      „Ehm…“
      „Er hat sie gar nicht verloren, stimmt’s?“
      „Ehm…“
      „Du hast sie ihm gestohlen.“
      Siri blinzelte und sah die Wirtin mitleidserregend mit ihren grünen Augen an, brachte aber kein Wort heraus. Verdammt und zugenäht, war denn die ganze Welt gegen sie? Konnte sie denn nicht einmal Glück in diesem gottverdammten, stinklangweiligen Dorf haben?
      „Siriaka!“ Die Augenbrauen der Wirtin zogen sich zusammen, wie die düsterste Gewitterwolken. Für einen Moment war dem Mädchen klar, warum es hier so oft regnete.
      „Ja“, meinte sie dann kleinlaut und zog den Kopf zwischen den Schultern ein. „Aber das ist einfach so passiert, darum gebe ich die Münzen ja wieder zurück.“

      Die Wirtin lachte. Bei allem, damit hatte sie nicht gerechnet. „Ich gebe die Münzen zurück und sage ihm, dass er gestern zu viel bezahlt hatte, ja? Aber du lässt in Zukunft deine diebischen Finger von meinen Gästen! Was du außerhalb der Taverne anstellst, ist mir egal, aber hier sollen sich die Leute von ihrem ermüdenden Arbeitsalltag entspannen.“
      „In Ordnung“, erwiderte das Mädchen und erste Erleichterung machte sich breit.
      „Und jetzt husch dich raus, außer du willst was essen oder trinken.“
      Das musste sie Siriaka nicht zweimal sagen. Sie nickte nochmals und eilte sie nach draußen. Sie brauchte einen neuen Plan. Davaab meinte zwar, dass er für beide sorgen würde, aber das war etwas Anderes, als eigenes Silber zu haben. Sie brauchte eine Möglichkeit, ihr eigenes Silber vor dem Riesen zu verstecken. Und auch vor den anderen. Während sie zurück zur Unterkunft lief, dachte sie weiter darüber nach. Nhouria! Genau, die Miss Pferdehändlerin würde ihr vielleicht für einen kleinen Anteil am Silber helfen. Sie musste sie fragen, wenn es ihr wieder besser ging.
      "Japan ist ein wenig so wie Österreich: da hast du erstens das Meer..." 8o
    • Auf Reisen #1


      Manchmal nahm der Lauf der Dinge eigenartige Wendungen. Siriaka hatte sich schon auf ein warmes, frisch zubereitetes Essen an einem Tisch mit Stühlen gefreut, doch dann war da diese Kutsche mit der toten Frau in der Kiste, dem fast toten Pferd, dem fast toten Mann und seinen Sohn, Enrico. Wenig später war das Pferd gestorben, woran, das wusste Siri nicht und der Mann wie seine Frau der Pest erlegen. Enrico hatte so in kürzester Zeit seine Heimat und seine Eltern verloren, ein Schicksal, das ihrem ähnlich war. Einige Stunden waren vergangen und der Junge hatte mittlerweile realisiert, was geschehen war und er hatte in der Zeit viele Tränen vergossen – verständlicherweise.

      Eigentlich wollte sie Enrico helfen, ein paar tröstende Worte spenden, aber sie wusste selbst nicht, was sie sagen könnte und eigentlich war ihr selbst zu heulen, denn in all der Aufregung waren Zedithessa und Alierana nach Calpheon aufgebrochen und sie hatte keine Möglichkeit mehr, sich von ihnen zu verabschieden. Und das nächste Reiseziel, das Davaab auserkoren hatte, lag am anderen Ende der Welt. Mal wieder. Sie wollten nach Velia, um Enrico bei seinen Großeltern abzuliefern. Außerdem plagten sie Hunger und Angst, sich selbst mit der Pest angesteckt zu haben. Die Bilder ihrer kränkelnden Eltern schossen ihr durch den Kopf. So wollte sie nicht enden.

      Darum stand Siri jetzt hier am Ufer des Flusses und zauderte. Hygiene sollte helfen, wurde ihr damals gesagt, also wollte sie sich gründlich waschen. Noch vor wenigen Wochen wäre das kein Problem gewesen, aber mittlerweile war die Luft eisig und im Wasser schwammen gerade so keine Eisschollen. Aber lieber kalt als krank, dachte sie sich und es war der beste Zeitpunkt. Davaab kümmerte sich um eine wärmende Feuerstelle während Enrico auf den Wagen achtete. Sie schüttelte die Decke aus, die sie anschließend brauchen würde und hängte sie über einen niedrigen Ast. Als nächstes befreite sie ihre Füße von den Schuhen und zuletzt legte sie die Kleidung ab. Sie zitterte am ganzen Leib und die Vorstellung, gleich ins kalte Wasser zu gehen, machte es nicht besser. Hätte sie Enrico bloß nicht berührt, dann müsste sie das jetzt nicht tun.

      Mit dem großen Zeh testete sie die Wassertemperatur. Daraufhin vergewisserte sie sich nochmals, ob wirklich kein Eis auf dem Wasser war, so kalt, wie es sich anfühlte.
      „Drei, zwei, eins…“, murmelte sie und machte einen Schritt vor. Doch in der Bewegung hielt sie inne und zog den Fuß wieder zurück. Es war saukalt! Vor Anspannung lachte sie leise über sich selbst, weil es ihr so schwerfiel, sich zu überwinden. Sie sprang ein paar Mal auf der Stelle, um die Muskeln aufzuwärmen. Ein kurzer Blick über die Schulter, ob Davaab sie wohl nicht sah oder gar noch schlimmer, Enrico. Aber keiner der beiden war zu sehen, sie hörte nur, wie Davaab in der Ferne das Holz sammelte.
      „Nochmals!“, sprach Siriaka sich Mut zu. „Drei, zwei…“ Sie tat den Schritt nach vorne. Das Wasser umfing sie.
      „…Eins!“, gab sie dann lauter als geplant von sich. Sie presste schnell beide Hände auf dem Mund um nicht lauthals aufzukreischen, als ihre Haut am ganzen Körper von der Kälte prickelte. Gleichzeitig musste sie den Instinkt unterdrücken, sofort wieder aus dem Wasser zu springen. Sie musste sich beeilen, sonst würde sie erfrieren. Die Füße wurden schon taub.
      „Kalt, kalt, kalt, kalt…“, stieß sie leise aus, während sie sich schnell, sehr schnell, am ganzen Körper abrubbelte. Sie musste vor sich hin fluchen, denn sonst würde sie kreischen, da war sie sich sicher.

      Arme, Bauch, Beine, Hintern, Rücken… es dauerte nicht einmal eine Minute und Siriaka war mit dem Waschen fertig. Sie fühlte sich wie eine Eisstatue, als sie sich zum Ufer umdrehte und in zwei glühende Augen starrte. Dieses Mal konnte sie einen erschreckten Schrei nicht verhindern. Doch im nächsten Augenblick erkannte sie Zinto, der ihr nachgeschlichen war. Erleichtert, dass es sich lediglich um das haarige Monster und nicht um einen bösen Dämon oder gar Enrico, der sie beim Baden beobachtete, war, sprang sie aus dem Fluss heraus. Sie riss die Decke vom Ast und wickelte sich darin ein. Schnell schlüpfte sie zumindest in ihre Schuhe, schnappte sich Zinto unter den einen Arm, hielt die Decke mit der anderen Hand zu und hüpfte zurück, damit ihr warm wurde. Tatsächlich half es etwas, aber noch mehr half das Feuer, das Davaab zwischenzeitlich entfacht hatte.

      Schnell pflanzte sie sich neben die Feuerstelle, so dicht, dass sie selbst durch die Decke hindurch die wärmenden Strahlen spüren konnte. Den Kater, der im Augenblick nicht wusste, wie ihm geschah, hielt sie mit beiden Armen umkuschelt fest, denn er war ein weiterer Wärmespender. Trotzdem zitterte sie wie Espenlaub.
      „Ich war mich nur waschen“, meinte sie, um etwaigen Fragen zuvorzukommen. „Gibt’s jetzt was zu essen?“
      Der Riese richtete langsam seinen Blick auf sie. Das Gesicht grimmig verzogen. Instinktiv zog Siri ihren Kopf etwas ein, sodass die Decke ihr halbes Gesicht verbarg und bereitete sich auf eine Standpauke vor. Sicherlich würde er ihr sagen, dass es dumm war, einfach so in den kalten Fluss zu springen und sie darum nun krank werden würde. Dass es besser gewesen wäre, wenn sie etwas Wasser erhitzt und sich damit gewaschen hätte. Allerdings wollte sie Davaab nicht unbedingt auf die Nase binden, dass sie Angst hatte. Angst, sich mit der Pest anzustecken.

      „Ich habe Zinto zum Fischen an den Fluss geschickt“, eröffnete Davaab, die Stimme ruhig und gewichtig. Seine Aussage führte ihrerseits zu einem fragenden Stirnrunzeln. Es war nicht, was sie erwartet hatte.
      „In dieser Gegend gibt es Flussbarsche, die im Winter besonders fett und saftig sind. Aufgespießt und knusprig über dem Feuer gebraten schmecken sie mit Salz und etwas Stockbrot sehr gut“, führte der Riese weiter aus. Siriaka schluckte. Der Gedanke an einen gut gebratenen, würzigen Fisch ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen und sogar die Kälte war für einen Moment vergessen. „Aber dein Gezappel im Wasser dürfte alles Essbare verscheucht haben... also müssen wir heute hungern.“
      Nun konnte das Mädchen einen Funken von Schalk in Davaabs Augen erblicken und wollte schon erbost reagieren, doch sein lautes, befreiendes Lachen erstickten ihre Worte im Keim. Sie musste sogar selbst schmunzeln und auch Enrico blickte auf und sah für einen Augenblick erheitert aus. Der Friede wurde noch gefestigt, als der Riese geräucherten Schinken und gepökelte Wurst auspackte und erklärte, dass er sie noch am Hof tauschen konnte, bevor sie aufgebrochen waren. Das Essen wurde zwischen den Vieren – auch Zinto bekam seinen Anteil – aufgeteilt und genussvoll verzehrt.

      „Ich dachte schon, ich bekomme jetzt etwas zu hören“, meinte Siriaka nach einigen Bissen. Enrico blickte Siri für einen Moment an, doch das Essen war im Moment wichtiger, als Worte, denen er sowieso nicht ganz folgen konnte.
      „Da, wo ich herkomme, hatten wir keine Wannen mit heißem Wasser zum Baden oder waschen“, erklärte Davaab. „Wir nahmen dankend das, was uns die Natur gab, und haben uns im eiskalten Bergfluss gewaschen. Aber du bist klein und weich - kein Riese mit dicker Haut und genug Speck, um die Kälte fernzuhalten.“
      „Ich bin nicht weich…“, murmelte Siri und kaute auf der Wurst herum, aber der Riese überging diesen Kommentar.
      „Aber es sah lustig aus, wie du herumgehampelt hast.“
      Siri blickte schlagartig auf und das Blut schoss ihr in das Gesicht. Er konnte sie doch nicht gesehen haben, oder? Sie hatte sich zuerst vergewissert, dass sie niemand da war, der sie beobachten konnte. Davaab grinste schief und amüsierte sich sichtlich.

      „Stimmt“, meinte nun sogar Enrico. Die beiden männlichen Zweibeiner der Reisegruppe tauschten kurze Blicke aus und Siri wusste in dem Moment nicht, ob sie auf den Arm genommen wurde oder nicht. Vor allem, da auch Zinto es geschafft hatte, sich an sie heranzuschleichen.
      Der Kater nutzte auch gleich die Gelegenheit ihrer Unaufmerksamkeit und angelte sich mit einer Pfote das letzte Stückchen Wurst, dass sie noch in der Hand hielt. Mit zwei schnellen Bissen war sie verschlungen.
      „Ihr seid gemein! Alle drei“, gab das Mädchen empört von sich, aber dann mussten sie alle gemeinsam lachen. Zinto drehte sich einmal herum und legte sich schnurrend auf Siris Bauch. Inzwischen hatte das Feuer sie etwas gewärmt und fast getrocknet.

      Nach dem Essen unterhielten sich die drei ein wenig und Siri konnte ihre Bedenken bezüglich der Krankheit äußern, ohne als Angsthase dazustehen und ohne Enrico zu beleidigen. Der Junge war natürlich weiterhin traurig, nahm es aber mittlerweile mit Fassung und brach nicht wieder in Tränen aus. Er überlegte eine Weile und meinte schlussendlich, dass er nicht glaubte, sich angesteckt zu haben, denn körperlich ging es ihm gut. Anschließend hatte Siri ihre am Fluss zurückgelassene Kleidung gewaschen und dabei für erneute Erheiterung gesorgt, da es nicht so einfach war, komplett in die Decke eingewickelt die Arbeit zu verrichten, die beiden aber auch nicht daran dachten, sie aus den Augen zu lassen. Bis die Nacht hereingebrochen war, konnten die Kleidungsstücke am Feuer auftrocknen. Davaab hatte Holz nachgelegt und kurz die Umgebung kontrolliert, um sicherzugehen, dass sie nicht plötzlich von irgendjemanden überfallen werden konnten. Enrico säuberte zwischenzeitlich für die drei einen Schlafplatz am Feuer.


      „Bist du noch wach?“, flüstere es leise in Siriakas Ohr. Sie schlug erschrocken die Augen auf und erblickte den sternenklaren Nachthimmel. Sie lag zugedeckt auf dem Rücken und Zinto hatte es sich neben ihr unter der Decke gemütlich gemacht. „Siri?“
      „Sie drehte den Kopf nach rechts und im Schein des Feuers sah sie Enricos Gesicht, viel näher noch als zum Zeitpunkt, als sie sich schlafen legten. Der Junge hatte sich zu ihr gedreht und den Kopf auf der Hand aufgestützt.
      „Was ist los?“, flüsterte sie zurück.
      „Ich kann nicht einschlafen, ich dachte du bist noch wach und wir können noch etwas reden.“
      „Ist schon gut“, meinte sie weiterhin leise. „Über was willst du denn reden?“
      Sie drehte sich ebenfalls zu Enrico, stütze, ihm gleich, den Kopf mit der rechten Hand und kraulte mit der Linken den Kopf des Katers. Ein wohliges Schnurren ertönte unter der Decke.
      „Konntest du schlafen, als deine Eltern gestorben sind?“, wollte Enrico wissen. Siri überlegte einen Augenblick, bevor sie antwortete.
      „Ja. Mama und Papa schickten mich von zuhause fort. Sie gaben mir Silber mit und sagten, ich sollte in die große Stadt, dort werde ich Hilfe bekommen. Als ich ging, waren sie bettlägerig, aber noch am Leben. Sie wollte nicht, dass ich sah, wie sie… Darum weiß ich nicht, an welchem Tag es war und ich war immer unterwegs und abends so müde, dass ich sofort schlief.“
      „Mhm“, machte Enrico. „Ich bin auch sehr müde, aber mir gehen die Bilder nicht aus dem Kopf, obwohl ich gar nicht gesehen habe, wie Vater… wie er… er zusammengebrochen ist.“
      Seine Augen begannen zu glänzen und eine Träne bahnte sich den Weg über die Wange. Siri spürte, wie sich ein Knoten in ihrer Kehle bildete. Das gemeinsame Schicksal und sein Leid berührten auch sie. Das Feuer knackste laut, als ein nicht ganz trockener Ast sich entzündete.

      „Ich habe auch darüber nachgedacht. Ich denke, meine Eltern sind irgendwann im Bett eingeschlafen. Friedlich. Und bei deinem Vater, er war stark bis zuletzt. Er hat auf dich aufgepasst und dann ging es schnell, als er bemerkt hat, dass du nicht allein sein würdest. Er musste nicht viel leiden.“
      Sie wusste, dass das nicht ganz der Wahrheit entsprach. Auch ihre Eltern versuchten zu verbergen, wie sehr sie litten, aber sie war nicht dumm, sondern konnte es erkennen. Ihnen zuliebe tat sie jedoch so, als würde sie nichts bemerken. Bei Enricos Vater war es sicherlich ähnlich gewesen. Der Mann wusste sicherlich seit Tagen, dass sein Leben zuneige ging und neben körperlichen Schmerzen gab es auch die Sorgen, was aus seinem Jungen geschehen würde.
      „Ja, er war immer so stark, bis zuletzt.“ Die Träne tropfte von der Wange zu Boden. Trotzdem lächelte Enrico plötzlich. „Ich weiß noch, vor einigen Jahren, da hatte es bei uns geschneit und ich baute einen Schneemann. Ich machte dazu einen Schneeball und rollte ihn am Boden, bis eine große Kugel entstanden war und dann noch eine weitere, nicht ganz so groß. Als ich sie auf die erste heben wollte, war sie jedoch zu schwer für mich.“
      Siriaka lauschte interessiert seinen Worten. Sie unterbrach ihn nicht, sondern ließ ihn frei von der Seele sprechen.
      „Papa unterbrach seine Arbeit und kam zu mir. Er kniete sich nieder, packte die Schneekugel und hob sie einfach auf die andere, als wäre sie federleicht. Er lachte und meinte, dass ich das in ein paar Jahren selbst kann. Ich dachte mir nur, dass ich nie so stark sein würde, wie er.“
      „Du bist stark, Enrico. Du bist wohlauf, du wirst es nach Velia schaffen und du hast alles zuvor geschafft. Wärst du nicht stark, wärst du nicht so weit gekommen.“
      Er nahm die Worte auf und betrachtete sie eine Weile. Siri wusste nicht, warum er nichts sagte oder warum er sie so ansah, aber sie blickte einfach still zurück. Nur ihre Finger umspielten gerade Zintos Ohren. Abgesehen vom Feuer und dem Rauschen des Flusses war es recht still. Im Gegensatz zum Sommer gab es im Winter nicht so viele nachtaktive Tiere, die man hören konnte. Selbst Zintos Schnurren war leise geworden und sie konnte es mehr spüren als hören.
      „Warum bist du so?“, wollte Enrico schließlich wissen.
      „Wie so?“
      „Na ich habe gemerkt, dass du unterwegs immer wieder gemeckert hast und dass du Davaab gerne aufziehst. Ich dachte mehrmals schon, dass er dich verärgert einfach irgendwo absetzen würde, aber dann ist alles wieder gut. Und dann gibt es die andere Seite, da kannst du ernst über Dinge reden, du hilfst anderen und bist… wie soll ich sagen, einfach freundlich.“

      Siriaka war überrascht. In nicht einmal einen Tag hatte er das bemerkt. Ja, unterwegs hatte sie sich mehrmals darüber ausgelassen, dass sie schon wieder auf der Reise waren und auch über dies und das geschimpft, aber sie hatte nicht gedacht, dass Enrico das registrieren würde. Die Wahrheit konnte sie ihm jedoch nicht einfach so mitteilen. Sie konnte nicht sagen, dass sie noch etwas Kind sein wollte, da sie das in den letzten Jahren kaum sein konnte, weil sie sich immer mehr um den Haushalt kümmern musste und Davaab ihr seit langem wieder das Gefühl gab, dass jemand für sie da war. Sie konnte das weder Enrico sagen und schon gar nicht dem Riesen selbst und musste kurz grinsen, bei der Vorstellung, wie Davaab reagieren würde, wenn er davon wüsste.
      „Ich weiß nicht“, antwortete sie schließlich. „Ich bin einfach so. Manchmal denke ich nicht darüber nach, was ich sage.“
      „Das glaube ich nicht“, meinte Enrico und drehte sich auf den Rücken. „Ich werde nochmals versuchen, zu schlafen. Gute Nacht.“
      „Gute Nacht.“
      "Japan ist ein wenig so wie Österreich: da hast du erstens das Meer..." 8o
    • Auf Reisen #2


      „…und am Vormittag muss noch etwas Holz gehackt und aufgestapelt werden.“ Davaab bejahte, bevor Siriaka auch nur einen Einwand bringen konnte. Sie waren den ganzen Tag unterwegs gewesen und endlich bei einem Hof in Balenos angekommen, nur mehr einen halben Tagesmarsch von Velia entfernt. Sie durften am Hof übernachten, bekamen Abendessen, Frühstück und Mittagessen, mussten dafür aber ein paar Arbeiten erledigen.

      Die Nacht war sehr erholsam. Mit vollem Magen in einem Bett schlafen – Luxus pur. Leider krähte der Hahn noch vor Sonnenaufgang und riss Siri aus dem wohlverdienten Schönheitsschlaf. Sie streckte sich und blickte zu Enrico, der im Bett nebenan lag. Der Junge schlief trotz Hahngekrähe. Davaab war wo anders untergebracht, der er zu groß oder zu schwer für das Bett war. Oder beides, wie Siri vermutete.
      „Enrico?“, versuchte es Siri zuerst zaghaft. Keine Reaktion.
      „Enrico!“ Der zweite Versuch war weniger zaghaft, doch auch dieser erzielte nur ein leichtes Durchatmen. Sie zuckte mit den Schultern. „Männer…“

      Das Mädchen machte sich frisch und ging nach draußen. Die Temperaturen waren schon erträglich, fernab vom Gefrierpunkt. Man merkte, dass es wieder Frühling wurde und dass sie weiter in den Norden kamen. Einige Holzscheite lagen am Boden herum und so fing sie an, Holzscheit für Holzscheit aufeinander zu schlichten. Es war eine einfache Arbeit und so konnte Siri ihre Gedanken schweifen lassen. Was würde sie tun, wenn sie in Velia angekommen war? Als erstes musste sie sich einen Plan von dem Städtchen machen und dann schlafen. Viel schlafen. Und irgendwie Davaab beschäftigt halten, damit er nicht immer hinter ihr her war. So froh sie über ihren riesenhaften Aufpasser und Gönner war, so brauchte sie auch etwas Zeit für sich, ohne Aufpasser.
      Das Geräusch von einer Axt, die Holz spaltete, durchschnitt die Luft. Siri zuckte leicht zusammen und blickte sich um. Davaab war ebenfalls auf und hatte sich an die Arbeit gemacht. Stunden vergingen…

      Die beiden tauschten nur wenige Worte aus und der Holzstapel wuchs, während die noch zu verarbeitenden Hölzer weniger wurden. Gemächlich aber stetig arbeiteten die beiden, als flottes Pferdegetrampel zu hören war. Siri mühte sich gerade mit einem größeren Stück ab und warf einen Blick über die Schulter. Das Holzscheit fiel ihr aus den Händen und hätte beinahe die Zehen getroffen.
      „Miss Pferdehändlerin!“, grüßte sie lautstark, als sie Nhouria erkannte. Schnell war die Frau von ihrem Pferd abgestiegen. Irgendwie hatte Siri befürchtet, sie würde die missmutige und gemeine aber dennoch liebenswürdige Pferdehändlerin nicht mehr wiedersehen, aber sie freute sich sehr, dass sie sich in dieser Hinsicht geirrt hatte. Ehe sie sich versah war sie zur ihr gespurtet und hatte die Hände um die Hüfte der größeren Frau gelegt und drückte sie fest an sich. Sie schloss die Augen, als sie spürte, dass sich eine Träne ankündigte. Sie wollte nicht weinen, das war peinlich!

      Nhouria erzählte, dass Alierana und Zedithessa in Calpheon gefangen genommen wurden und von einem komischen Mann, der scheinbar dafür verantwortlich war. Schweren Herzens mussten die drei jedoch feststellen, dass sie nicht in der Lage waren, helfend einzugreifen. Calpheon war schon ein gutes Stück weg und offensichtlich war es in der Stadt noch immer gefährlich. Außerdem wussten sie viel zu wenig. So wurde der Entschluss gefasst, trotzdem weiter nach Velia zu reisen und dort vielleicht jemanden zu finden, der helfen konnte.

      Die Sonne senkte sich hinter einer fernen Burgruine und der Salzgeruch vom Meer wurde immer deutlicher. Möwen kreisten im letzten Sonnenlicht des Tages und sangen ihre Lieder. In diesen Liedern ging es sicherlich um große Fische, dachte Siri bei sich, oder um dumme Fischer. Zinto wurde noch unruhiger, als er die letzten Stunden schon war. Vielleicht wusste er auch, dass es in Velia viel Fisch gab – und einfältige Fischer! – oder etwas Anderes sorgte bei dem Fellbündel für Aufregung. Enrico und Davaab strahlten so etwas wie Erleichterung aus und bei Nhouria vermutete Siri das gleiche. Und sie selbst? Das Mädchen freute sich schon sehr, endlich in dem beschaulichen Städtchen, am vorläufigen Ende ihrer Reise, anzukommen. Sie sprang vom Wagen herab und lief ein kleines Stück voraus und neben den Weg in die Wiese, wo sie ein Rad schlug.

      „Juhuuu! Wir sind fast da!“, brüllte sie einfach so heraus und scheuchte einen Schwarm Vögel von der Wiese auf. Sie streckte eine Faust in den Himmel und lief zum Wagen zurück. Sogar Enrico ließ sich von der Begeisterung anstecken und lachte. Eine halbe Stunde später erreichten sie den Stadtrand. Während Davaab, Enrico und Siri zu Enricos Großeltern gingen, wollte sich Nhouria zuerst um einen Platz für ihr Pferd bemühen, also teilten sie sich auf.
      Enricos Großeltern hatten ein Haus mit einer daran angeschlossenen Werkstatt. Es war leicht zu finden, doch schwer dahinzugehen. Immerhin würden sie schlechte Neuigkeiten überbringen. Siris Freude wurde etwas gedämpft und Enrico wurde immer nervöser.

      „Du solltest mit den Leuten zuerst reden, Davaab“, meinte Siri zu dem Riesen. Wenn sie am Wagen stand erreichte sie schon beinahe die Schulter und konnte so leise sprechen, dass Enrico es nicht hörte. Außerdem war er gerade mit Zinto beschäftigt und versuchte den Kater zu beruhigen. „Ich bleibe mit Enrico im Hintergrund, damit er nicht sieht, wie seine Großeltern… naja, wie sie das aufnehmen.“
      Davaab brach zwar nicht in Begeisterung ob des Vorschlags aus, stimmte aber zu.

      Das Feuer knisterte im Kamin und Siriaka gähnte lautstark. Sie waren bereits seit einigen Stunden im Haus von Enricos Großeltern, die sich als äußerst gastfreundlich erwiesen. Sie ertrugen die Nachricht, dass ihre Tochter und ihr Schwiegersohn an der Pest verstorben waren, mit Fassung und verkündeten, dass sie sich natürlich um ihr Enkel kümmern würden. Zudem boten sie ein Dach über den Kopf und Essen an, wenn Davaab im Gegenzug in der Werkstatt aushelfen würde.
      „Riesenkraft kann ich immer mal gebrauchen“, erklärte Anton, Enricos Großvater. „Oder einfach ein paar helfende Hände.“
      „Und das Mädchen kann mir ein paar Wege abnehmen, sodass ich meine Füße schonen kann“, meinte die Großmutter mit einem freundlichen Lächeln. Siri nickte zustimmend. Es klang nach einer einfachen Arbeit und so würde sie Leute kennenlernen. Und außerdem war Ridi genauso zuvorkommend wie Anton.

      Als alles geklärt war, zogen sich Davaab und Siri zurück, um der Familie etwas Zeit und Raum zu geben. Davaab schnappte sich eine Laterne und warf noch einen Blick in die Werkstatt, während Siri sich daranmachte, die Betten für den Riesen, Enrico und sich herzurichten. Ihre Gedanken kehrten immer wieder zu Alierana und Zedithessa zurück, doch obwohl sie sich um die beiden sorgte, konnte das ihr Freude nicht vertreiben. Gespannt darauf, was der nächste Tag bringen würde, legte sie sich schlafen.
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    • Die Nacht


      Heiß! Das schoss Siriaka durch den Kopf, als sie munter wurde. Es war so unglaublich heiß und sie verstand nicht warum, denn die Nächte waren noch kühl und da sie immer vor dem Schlafengehen ordentlich durchlüftete, war ihr in der Nacht nie heiß. Außerdem war es finster, das passte ebenso wenig. Wenn sie munter wurde, dämmerte es schon, oft war sogar die Sonne über den Horizont getreten. Wahrscheinlich war sie munter geworden, weil ihr so warm war. Sie stieß ein leises Seufzen aus und entschloss sich, doch aufzustehen und etwas zu trinken und das Fenster aufzureißen, um kühle Luft hereinzulassen.

      Mit der Hand wollte sie sich abdecken, aber es ging nicht. Ihre Hand steckte fest! Schlagartig wurde sie wirklich munter und bemerkte, dass vieles nicht stimmte. Es roch anders, das Bett fühlte sich anders an und… da dämmerte es ihr, dass sie gar nicht zuhause war, sondern bei Hibiki. Jetzt wurde ihr auch klar, was ihren Arm festhielt und nicht nur ihren Arm, sondern eigentlich sie als Ganzes. Hibiki hatte ihre Arme um Siriaka geschlungen und hielt sie fest und darum war ihr auch so warm, da sie nicht ein Bett für sich alleine hatte.

      Eigentlich wollte sie gar nicht im Bett schlafen, sondern am Boden auf einer Decke oder so, doch Hibiki wäre wohl eher selbst am Boden geschlafen, als das zuzulassen und so hatte sie sich breitschlagen lassen, doch im Bett zu schlafen. Es bot eigentlich genug Platz für beide und Siri war auch ganz an den Rand gerückt. Doch irgendwann in der Nacht hatte Hibiki ihre Klammerattacke gestartet und so war das halbe Bett leer und die beiden lagen dicht an dicht am Rand des Betts.

      Sie grinste. Stunden zuvor hat Hibiki es kaum gewagt, auch nur irgendwie Siri zu berühren und jetzt wurde sie regelrecht festgehalten. Eine ziemliche Änderung. Das gleichmäßige Atmen des älteren Mädchens verriet ihr, dass sie jedoch tief und fest schlief. Sie drückte sich vom Kopfteil ab, um so Richtung Bettende aus der Umklammerung zu entkommen, ohne dabei Hibiki zu wecken. Eine Minute später stand sie neben dem Bett und schüttelte leicht den Kopf. Endlich, ein kühler Luftzug, der über ihre Haut strich. Das Fenster war sogar leicht geöffnet.
      Draußen war es sternenklar, aber stockfinster und im Haus um keinen Deut heller. Siri rief sich in Erinnerung, wo in etwa sie langgehen musste, um in die Küche zu kommen. Mit der Hand tastete sie nach der Trennwand und folgte ihr zur Tür. Sie trat in den Hauptraum. Zumindest ein paar Umrisse konnte sie mittlerweile erkennen als ihre Augen sich langsam gewöhnten und so fand sie auch die Kochnische. Sie steuerte darauf zu. Plötzlich schepperte es und der Boden kam rasch näher.

      „Uff“, stieß sie aus, als sie der Länge nach auf dem Holzboden aufschlug. Zum Glück konnte sie den Sturz noch mit den Händen abfangen, aber ein stechender Schmerz kroch ihr Schienbein hoch, wo sie gegen die Kante des flachen Esstisches geprallt war. Sie setzte sich auf und rieb sich über die Stelle, konnte glücklicherweise kein Blut spüren. Es würde lediglich ein ordentlicher blauer Fleck werden. Vielleicht sogar lila. Doch das machte Siri nichts aus, so etwas passierte schon mal und am Tisch war hoffentlich auch nichts zu Bruch gegangen. Also rappelte sie sich wieder auf, richtete den Sitz ihrer Unterwäsche und setzte ohne weitere Zwischenfälle den Weg fort.

      Sie fand die Überreste des Tees, den sie abends getrunken hatte, aber den Topf mit dem Zucker nicht. Ohne Zucker wollte sie den Tee jedoch nicht trinken, also tastete sie die Küche ab. Als ihre Hände etwas Weiches berührten, zuckte sie kurz zurück, doch nach erneutem Ertasten erkannte sie die Kugelform und die Konsistenz eines Dangos. Auch gut! Sie nahm den Dango und mampfte ihn auf. Dieser war mit Himbeermus gefüllt und ziemlich lecker. Sie tastete weiter und hatte Glück, auf dem Teller war mehr als nur ein Dango. Sie schnappte sich den Teller, lehnte sich an die Kochnische und steckte sich die nächste süße Kugel in den Mund. Apfel. Weiter, Pfirsich. Noch einer, irgendetwas, das sie nicht kannte. Erdbeere. Alle lecker und plötzlich war der Teller leer. Sie lutschte noch die Reste des letzten Dangos von ihren Fingern, dann stellte sie den Teller wieder hin. „Zucker, wo bist du, lieber Zucker…“

      Siriaka fand alle möglichen Gewürze. Neben bekannten Kräutern und Salzen gab es noch eine Unmenge an Gewürzen, deren Geruch sie nicht einmal kannte. Bei dem einen oder anderen hatte sie zwar den Eindruck, dass es im Abendessen vor zwei Tagen drin war, aber war sie sich nicht. Aber es war zum verrückt werden, denn es war kein Zucker dabei. Unabsichtlich rülpste sie leise, als ihr Magen mit der Verarbeitung des nächtlichen Imbisses anfing.

      Siriaka musste den Tee wohl oder übel ohne Zucker trinken. Sie nahm die Kanne und ging vorsichtig wieder zurück zum Tisch, denn dort stand noch irgendwo ihre Schale. Das Porzellan spiegelte zum Glück das wenige Sternenlicht, das in den Raum kam und so fand sie die Schale am Tisch. Und da war er auch, der Zuckerpott, er stand ebenfalls auf dem Tisch. Am liebsten hätte sie sich mit der flachen Hand auf die Stirn geklatscht, denn jetzt war es einleuchtend, dass er hier war. Mit dem Spatel schaufelte sie drei Häufchen Zucker in die Schale und goss den kalten Tee darüber. Sie rührte ein paar Mal um und trank die Schale aus und stellte sie wieder auf den Tisch zurück.
      Leise schlich Siri wieder zurück zum Bett. Sie stieg über Hibiki und legte sich auf die andere Seite des Betts. Den Rücken drückte sie an die Wand. Der kühle Stein fühlte sich gut an. Sie schloss die Augen.

      Kalt. Es war verhext. Ohne Decke wurde ihr kalt und sie konnte nicht einschlafen. Siri war schon von der Wand weggerückt, doch es reichte nicht. Einige Augenblicke überlegte sie, wie sie an die Decke kommen konnte, ohne Hibiki zu wecken, doch sie sah keine Möglichkeit. Fünf weitere Minuten versuchte sie einzuschlafen, aber es klappte nicht. Es war ihr unverständlich, wie Erwachsene freiwillig und gerne in einem Bett schliefen. Die hatten dabei ja noch weniger Platz.
      Sie seufzte ein weiteres Mal, griff dann einfach nach der Decke und zog daran. Wenn Hibiki aufwachen würde, wäre sie selbst schuld, denn sie hatte sich so angeklammert, dass Siri nicht durchgeschlafen hatte. Ja, eigentlich geschah es ihr Recht, wenn sie aufwachen würde. Sie zog nochmals etwas fester an der Decke.
      "Japan ist ein wenig so wie Österreich: da hast du erstens das Meer..." 8o
    • Fiebertraum


      Siri wachte im Bett auf und endlich ging es ihr wieder gut. Gestern vor dem Schlafengehen hatte sie eigentlich noch deutlich erhöhte Temperatur und ihre Mama hatte ihr einen Kräuterumschlag gewickelt, der ihr beim Schlafen half. Aber jetzt ging es ihr gut. Sie schlug die Decke zurück und schlüpfte aus dem warmen Bett. Sie ging zu ihrem Kleiderschrank, öffnete ihn und staunte nicht schlecht. Seit sie in Velia angekommen war, hatte sie schon einige neue Kleider bekommen: das weiße mit dem pinken Stoffgürtel, das sie gerne trug, das Schwarze, dass – laut Aussagen anderer – sehr knapp geschnitten, aber dennoch elegant war, die kurze Hose mit dem bauchfreien Shirt für die heißen Sommertage. Aber der Kleiderschrank quoll nun förmlich über und es hingen Kleider, Hosen und Shirts in allen möglichen Farben darin. Ilse hatte offensichtlich fleißig gearbeitet, während sie selbst krank war.

      Durch die große Auswahl etwas unschlüssig zog sie dann das bereits bekannte schwarze Kleid heraus und zog es sich über den Kopf. Sie musste sich ein Bisschen schlängeln und es am Ende nach unten ziehen, da es enganliegend war. Aber das gehörte so. Sie überlegte einen Moment, doch zog ebenfalls das Kurzschwert heraus, bei dem Ilse meinte, dass es zum Kleid gehörte. Fertig angekleidet stieg Siri die Treppe hoch und ging ins Freie. Die ersten Sonnenstrahlen berührten bereits Velia, die Luft war angenehm warm aber noch nicht so heiß, wie sie es über die Mittagszeit werden würde.

      Siris erster Weg führte sie zum Hafen, denn heute war ein besonderer Tag. Sie hatte sich etwas Neues überlegt und heute würden sie es alle ausprobieren. Schon von weitem sah sie Susi, ihre Mama, am Hafen stehen und sie winkte Siri zu. Sie trug nicht ihre übliche graue Robe, sondern das schwarze Federkleid. Siri lief auf ihre Mama zu und erkannte dann, dass nicht nur sie schon da war, sondern neben ihr noch Lizza und Yun standen. Talasha und Ayleen waren ein Stückchen weiter hinten und Thyrianna gesellte sich gerade dazu und sogar Hibiki war gekommen. Deren farbige Haare stachen ebenso heraus, wie Lizzas Größe.

      Die Gruppe hieß Siri fröhlich willkommen, gratulierten ihr zur Genesung und meinten, dass sie bereit für die geplante Fahrt wären. Es war die Generalprobe zu der neuen Geschäftsidee: die Erlebnisschifffahrt. Wenig später waren alle auf der Takao versammelt und Susi steuerte das Schiff geschickt aus dem Hafen heraus. Siri nahm hinter ihr Aufstellung um das Ganze zu überwachen. Lizza legte gerade ihre Angel an der Reling auf und Yun kletterte bereits entlang der Takelage nach oben. Thyrianna setzte sich ganz vorne auf das Deck und Talasha stand neben ihr. Ayleen hatte unter dem Mast die beiden großen Trommeln aufgebaut und Hibiki stellte sich neben Siri. Alles war genauso, wie Siri es geplant hatte. Das Schiff rauschte über die Wellen und ließ die Küste hinter sich, ein paar Wellen brachten es zum Schaukeln, aber es war recht angenehm.

      „Also gut“, rief Siri gegen den Wind. „Danke, dass ihr alle mitmacht und ich bin mir sicher, dass wir damit viel Geld damit verdienen werden, das wir dann untereinander aufteilen.“
      Die Mannschaft blickte zu ihr und nickte brav, bevor das Mädchen weitersprach. „Ich bin mir sicher, ihr alle wisst genau, was ihr tun müsst, weil ihr seid nämlich ziemlich schlau. Dann fangen wir an.“
      Siri ging am Oberdeck nach ganz vorne und richtete sich an das imaginäre Publikum.
      „Werte Fahrgäste des Erlebnisschiffs Takao, herzlich Willkommen und genießt die Darbietungen unserer talentierten Mannschaft!“

      Und mit diesen Worten begannen die Aufführungen. Susi und Lizza stimmten ein schönes Lied an und die Fischerin warf die Angel aus, damit sie anschließend auch einen ordentlichen Fisch zum Essen haben würden. Thyrianna murmelte fremde Worte vor sich hin und machte eine Handgeste. Obwohl Siri es nach wie vor unheimlich fand, war sie eine gute Attraktion für die Gäste, denn plötzlich bildete sich am Vorderdeck ein kleiner Wasserbrunnen. Frisches und kaltes Süßwasser spritzte in die Höhe und floss über das Deck zurück ins Meer. Becher standen bereit, um das Wasser aufzufangen, damit die Gäste auch genug zu trinken hatten. Talasha hatte ihre Rüstung ausgezogen und trug darunter ein Kleid. Sie tanzte zu dem Gesang und zeigte ihre Künste im Ballett. Dabei schaffte sie es, so um den Wasserstrahl zu tanzen, dass sie nicht nass wurde.

      Ayleen schwang die Schlägeln und holte aus dem beiden Trommeln einen rhythmischen Klang heraus, der den Gesang untermalte und zu einem Fest für die Ohren machte. Yun sprang vom Krähennest herab in die Segel, rutschte am Leinen entlang, um dann ein Seil der Takelage zu fassen und wild mit einem Salto zum nächsten Seil durch die Luft zu wirbeln. Die Darbietungen aller waren sehr eindrucksvoll und weitaus besser, als Siri sich zu hoffen gewagt hatte. Sie stand stolz da und bewunderte ihre Künstler. Hibiki stellte sich neben Siri, denn die junge Frau hatte bei der Generalprobe wenig zu tun, denn sie würde sich mit Siri gemeinsam um das Wohl der Gäste kümmern. Alles war perfekt.

      „Ich bin stolz auf dich“, flüsterte Hibiki Siri ins Ohr und legte ihre Arme um den Hals des Mädchens. Siri wollte sich zu ihr wenden und sich bedanken, doch sie wurde vollkommen von dem Kuss auf die Wange überrascht. Sie grinste Hibiki einfach nur an, denn sie wusste, wie schwierig diese Geste für Hibiki sein musste.

      „Siri?“ Die Stimme kam von irgendwo aus der Ferne und plötzlich war es still auf der Takao. Sie sah sich um, doch konnte nicht erkennen, von wem die Stimme war.
      „Siri, du musst etwas trinken und essen.“
      Es war finster und heiß. Siri blinzelte und erblickte die Zimmerdecke, die vom Kerzenschein erhellt wurde. Sie schlug die Decke zurück und strich sich eine verschwitzte Haarsträhne aus dem Gesicht. Die Nase war noch immer zu und der Kopf fühlte sich an, als wäre er in Watte gepackt. Eine helfende Hand zog die heiße Decke trotz des Murrens wieder über sie. Leider war das alles nur ein Traum gewesen.
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    • Rum


      Siraka hielt den grünen Stein fest, den sie vorhin von Minuial bekommen hatte und ging zurück zur Unterkunft. Der Stein fühlte sich gleichzeitig leicht aber auch schwer an. Leicht vom Gewicht, schwer von der Verantwortung, die mit ihm einherging. Gerne hätte sie nachgefragt, ob Minuial ihn benutzt hatte, doch sie wollte das Thema im Urlaub nicht aufbringen. Trotzdem fragte sie sich, wie man nur so verbohrt sein konnte oder besser, was passiert sein musste, dass man sich so mit seiner eigenen Familie überwarf, um nicht einmal Kontakt aufnehmen zu wollte. Sie sagte sich, dass es wohl einen Grund haben wird. Bisher nahm sie an, dass dieser Grund eher einseitig war. Aber gut, sie würde jetzt keine Antworten darauf finden und wahrscheinlich auch nicht in den nächsten Wochen. Das war etwas, das Zeit brauchte, vielleicht mehr Zeit, als sie überhaupt auf dieser Welt verweilen würde.

      Bei der Unterkunft angekommen, öffnete sie die Tür. Sie war alleine hier, die anderen waren noch am Strand. Das war gut so. Sie ging zu dem Schrank, den sie mit ihrer Mama teilte und legte den Stein zu ihren Sachen. Dafür holte sie den kleinen Beutel, der ihre Silbermünzen enthielt, heraus. Sie ging in die Küche und stieg auf die Anrichte, um ins obere Regal zu kommen. Dort waren einige Tonkrüge. Siri schnappte sich einen der Kleineren und sprang wieder herab. Im Laufschritt eilte sie aus der Unterkunft. Schon tags zuvor hatte sie ihr Ziel ausgemacht doch heute war der richtige Zeitpunkt. Heute haben Lizza und Thyiranna Rum gekauft und da sie eine ordentliche Menge gekauft hatten, war die Chance, dass sie nochmals den Verkäufer aufsuchen würden, gering.

      Mit selbstbewussten Schritten ging die frischgebackene Vierzehnjährige auf den Händler zu und stellte den Krug auf seinen Verkaufstisch. Neben den Rumfässern, die am Boden standen, bot der Händler auch Wein und ein paar andere Schnäpse an. Auf einem weiteren Tisch bot er verschiedenste Schmuckstücke und anderen Krimskrams an. Sie nahm sich vor, nochmals herzukommen und diese Waren zu begutachten, wenn sie mehr Zeit hatte.

      „Guten Abend, junge Frau“, grüßte der Händler freundlich. Es war ein dunkelhäutiger Mann, mit strahlend weißen Zähnen. Er trug nur eine Hose und kein Hemd und hatte einen Strohhut auf. Seine Stimme war eher tief und er sprach in einem ungewohnten Akzent.
      „Guten Abend!“, grüßte Siri zurück. „Wir brauchen bitte noch etwas von dem Rum, bitte diesen Krug voll.“
      Der Mann hob sichtlich überrascht die Augenbrauen. „Wen meist du denn mit wir?“
      „Vorhin waren meine Freunde bei dir, eine dunkelhäutige, auffallend große Frau und eine bisschen ältere, eher blasse Frau, beide mit weißen Haaren. Sie haben zwei Fässchen Rum gekauft.“
      „Achso“, die Züge des Verkäufers klärten auf. „Ich bin hier nicht der einzige, der Rum verkauft und sie waren nicht bei mir, aber ich habe sie vor einer Weile kurz gesehen.“
      „Nun, das macht nichts“, erwiderte Siri, die sich nicht ausbremsen lassen wollte. „Ich brauche dennoch den Krug voll mit Rum. Ich zahle auch!“

      Der Händler beugt sich leicht vor. „Es ist gut, dass du zu mir kommst, junge Frau. Ich habe den besten Rum den man auf der Insel bekommen kann. Welchen sollst du denn holen, weißen oder braunen?“
      Weiß oder braun? Siriaka war für einen Moment verunsichert. Sie hatte gar nicht gewusst, dass es da Unterschiede gibt und sie wusste erst recht nicht, welchen sie in ihr Getränkt bekommen hatte. Es war viel zu wenig, als dass es den Pfirsichsaft eingefärbt hätte. Es war sogar so wenig, dass sie nur eine ganz feine Note davon geschmeckt hatte. Aber es schmeckte interessant.

      „Ich glaube, es war brauner Rum“, antwortete sie schließlich. „Falls ich den Falschen bringe, komme ich halt nochmals weißen Rum holen, ja?“
      „Aber sicher doch“, meinte der Dunkelhäutige und hob eines der Fässchen vom Boden. Es war mit einem Korken verstoppelt, den er herauszog und dann den Krug mit Rum füllte. Der Krug war kaum größer als ein Trinkbecher und so dauerte es nur einen kurzen Moment. Siri öffnete derweil ihren Beutel und zeigte dem Mann eine ihrer Silbermünzen. Er nickte. „Von diesen hier kostet es drei Münzen.“
      „Eins, zwei, drei“, zählte Siriaka sie aus dem Beutel und schob sie dem Mann zu. Dann nahm sie den Beutel und den Krug wieder an sich. „Danke und einen schönen Abend noch!“
      „Ich bedanke mich und ebenfalls noch einen schönen Abend, junge Frau. Und vergiss nicht, wenn du mehr brauchst, komm einfach vorbei.“
      Sie nickte und lächelte ihm zu und machte sich dann mit ihrer Beute eiligst auf den Rückweg. Sie hatte schon das passende Versteck nahe der Unterkunft gefunden. Es war eine kleine Einbuchtung im Fels. Siri verschloss den Krug mit einem Stein, stellte ihn dann in die Einbuchtung und versteckte ihn hinter weiteren Steinen. Wenn man nicht wusste, dass er hier versteckt war, würde man ihn nicht finden. Jetzt musste sie nur noch die passende Gelegenheit abwarten, wenn sie etwas länger alleine sein würde. Dann konnte sie den Rum kosten. Und vielleicht würde sie herausfinden, warum so viele Rum so gerne hatten.
      Sie kehrte in die Unterkunft zurück. Zu ihrer Erleichterung war sie noch immer alleine und niemand hatte die Akquise bemerkt.
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