Langeweile
Valencia, 259, gegen Mittag
Im Hinterhof eines heruntergekommenen Lehmhauses
Es ist heiß.
Die Luft steht still und ist knochentrocken. Gleißend hell flackert die Sonne hoch am Himmel. Sie ist wie eine erbarmungslose Göttin, die in Gestalt einer weißen, konturlosen Kugel über uns thront und sich im kalten Blau des Himmels abkühlt. Die kein laues Lüftchen wehen lässt und keine Wolken um sich duldet. Wie ein Brandloch, das sich gefräßig durch ein makelloses, himmelblaues Stück Stoff frisst.
Mutter würde bei dem Gedanken gewiss einen gehörigen Schreck kriegen.
Gelangweilt beobachte ich sie. Wie sie mit kritischem Blick und schrumpeligen, blauen Fingern über das frisch gefärbte Seidentuch gleitet, das zum Trocknen auf der Wäscheleine hängt. Es ist windstill und unerträglich heiß, doch es scheint Mutter nichts auszumachen. Sie arbeitet unermüdlich. Fleißig. Sorgfältig. So, wie sie es immer tut. Sucht mit einer Engelsgeduld und absoluter Konzentration das edle Stofftuch nach Farbunregelmäßigkeiten, losen Fäden oder Löchern ab. Ohne sich dabei ein einziges Mal zu beklagen.
Ich dagegen sitze im etwas kühleren Schatten einer Kokospalme mit hochrotem Kopf da und wische mir seufzend den Schweiß von der Stirn. Furchtbar wehleidig und mit zerknautschtem Gesicht, als wäre ich kurz davor zu sterben. Meine kleinen Füße baumeln von der bröckeligen Mauer herunter, die unseren staubigen, sandigen Hinterhof umgibt. Ein weißes Huhn gackert unter mir. Trottet mit gemächlichem Tempo im Kreis und pickt hier und da irgendetwas auf, das ich nicht erkennen kann. Krabbeltiere oder Samen oder so. An seinem linken Fuß fehlt eine Kralle, doch das scheint den kauzigen Vogel nicht zu stören. Genauso wenig wie die grausige Hitze. Was ist bloß mit allen los hier? Wie können alle so aktiv und unbeeindruckt sein? Demonstrativ fächere ich mir etwas Luft zu. Es bringt natürlich überhaupt nichts. Nicht in dieser Bullenhitze, die um uns wabert wie heiße, feurige Glut. Ich kann die Schlieren, die in der kochenden Luft flimmern, wortwörtlich vor meinen Augen sehen.
Dann ist meine Aufmerksamkeit schlagartig woanders. Irgendwas gräbt sich unangenehm in meine Fußsohle und tut weh. Ich zerknittere miesepetrig die Augenbrauen und ziehe mir den knöchelhohen Stoffschuh aus. Drehe ihn um und schüttele die lästigen Sandkörner und Steinchen aus, die wohl irgendwie durch eines der vielen Löcher dort hineingekommen sind. Verziehe dabei angewidert das Gesicht, als auch ein vertrockneter, toter Käfer herausfällt. „Igitt.“ Wie lange der wohl schon mit meinem Fuß da drin war? Ich will es lieber gar nicht wissen. Das Huhn wackelt neugierig mit dem Kopf und watschelt dann zielgerichtet auf das tote Insekt zu. Ich sehe weg, als der Schnabel darauf zuschießt.
„Mama, mir ist langweilig“, quengele ich dann und stülpe mir den Schuh wieder über. Mache ein entsprechend motziges Gesicht, doch Mutter dreht sich nicht zu mir um.
„Dann komm und hilf mir, statt dort faul herumzusitzen und zu jammern.“ Sie klingt dabei nicht genervt oder gar tadelnd, sondern vielmehr amüsiert. Macht sich offensichtlich lustig über mein ach so schweres Leid und nimmt mich nicht ernst. Ich scheine das aber gar nicht zu registrieren. Wahrscheinlich bin ich dafür noch zu jung mit meinen zehn Sommern.
„Aber es ist so heiß… Ich kriege bestimmt einen Sonnenstich. Davon kann man sterben, hat Rezi gesagt. Und ich will noch nicht sterben. Dann kann man nichts mehr machen.“
Mutter lacht leise und schüttelt bloß den Kopf. „Dann solltest du dir schleunigst Beschäftigung suchen, ehe du stattdessen vor Langeweile stirbst.“
Ich plustere beleidigt die Wangen auf und verschränke die dürren Arme vor der Brust.
„Haha, sehr witzig. Ich such mir schon was. Etwas, das Spaß macht. Und wo man nicht die ganze Zeit auf langweilige Tücher starrt“, sage ich trotzig und schnaube laut durch die Nase.
Ich weiß genau, was als nächstes passiert. Was ich tue. Wohin ich gehe. Wem ich begegne. Fühle mich, als sei ich wieder zehn Sommer alt. Als stünde ich zur selben Zeit mit vierunddreißig Wintern daneben. Wie ein fremder Beobachter außerhalb meines Körpers. Ein Geist aus der fernen Zukunft. Beobachtend. Reflektierend. Schwimmend in einem Gefäß, das mit einer trüben, schmutzigen Flüssigkeit gefüllt ist, die nach Erinnerung und Sehnsucht schmeckt. Ich blicke durch die Augen einer Erwachsenen und fühle mit dem Herzen eines Kindes. Es ist, als sei ich ich und gleichzeitig auch nicht. Kimaya hier und Rhaida dort. Zwei Seiten derselben Medaille aus unterschiedlichen Zeitaltern.
Und ich weiß, dass du hier irgendwo bist. Meine Zuflucht. Meine Geborgenheit. Mein Zuhause.
Auf einmal dreht sich mein kleines Ich auf dem brüchigen Mauergestein um und hüpft auf der Seite des Trampelpfads herunter. Der Staub des sandigen Weges wirbelt dabei auf und hüllt meine kaputten Schuhe in eine Wolke aus Dreck und trockenen Grashalmen. Ich klopfe mir mehr schlecht als recht das schmutzige Hinterteil ab und laufe los.
Zu dem Ort, an dem du bist. Dem Ort, an dem alles begann.
„Pass auf dich auf und bring dich nicht wieder in Schwierigkeiten!“, höre ich Mutter noch rufen und ich brülle bloß ein freches „Ich versuch’s!“ über meine magere Schulter zurück. Sause am Ende des unbefestigten Trampelpfads um die Ecke an unserem schäbigen Lehmhaus vorbei und anschließend die Straße hinauf, die hier und da mit Kopfstein gepflastert ist. Um mich herum stehen ähnlich hässliche Lehmhütten mit zerfledderten Holztüren und bröckeligem Mauerwerk. Palmengewächse und trockene Dornengestrüppe wuchern am Wegesrand und eine knochige, alte Ziege grast auf einer verdorrten Wiese. Sie hebt kauend den Kopf und starrt mich böse an, als fühlte sie sich von meiner Präsenz gestört, aber ich bleibe sowieso nicht lange und laufe weiter.
Immer weiter und weiter. Bis zum Marktplatz im Händlerviertel der Stadt.
Bis zu dir, Rawhiti.
Noot noot!