Elion!

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    • "Es ist nicht nur ein Privileg. Zuallererst ist es eine Verpflichtung."

      Dhesara hörte die Stimme ihres Vaters immer wieder. Sie hallte in ihrem Kopf, so wie sie vor Jahren durch die Eingangshalle ihres Hauses gehallt war. "Vergiss das nie, Tochter."

      Sie hatte es niemals vergessen. Voll heißen Eifers hatte sie sich in die Ausbildung zur Walküre gestürzt; selbst als das kleine Mädchen, das sie damals noch gewesen war. Sie war begabt, das hatten ihr die Aubilderinnen versichert, schnell und sicher mit Schwert und Schild, ehrgeizig, Elion verpflichtet, ergeben. Sie hatte ihre Eltern stolz gemacht, auch, wenn dies eigentlich keine Rolle spielte. Sie tat dies nicht für sie. Nur für Elion.

      Eines Tages, ganz früh am Morgen vor einigen Wochen, stand sie ein wenig müde an einem Tor der Akademie Wache. Aus dem milchigen Dunst erschien da plötzlich eine Gestalt vor ihr, unförmig schien sie im Nebel, ungeschlacht, ein Tier vermutlich, oder ein Ungeheuer, das klein und hässlich und nahe zum nassen Boden gekrümmt durch die nachtstille Stadt schlich. Rasch zog Dhesara ihr Schwert und machte sich bereit, einen Warnruf auszustoßen. Nur einen Moment verharrte sie noch ruhig, um erst einmal genauer zu sehen, um was für ein Ungetüm es sich handelte.

      Das Wesen hatte sie nicht bemerkt. Wie blind kroch es ihr entgegen. Sein Körper schien in sich verwunden; wie ein nackter Wurm kam es auf sie zu, auf blutige Hände und Knie gestützt. An der linken Hand standen einige Finger seltsam ab und das Gesicht war voller Schmutz und Blut, der ganze Körper war es, er war nackt, es war der Körper einer Frau, einer ganz jungen Frau, eines Mädchens, aber es war das Gesicht einer alten Frau, um das weißes Haar wirr herab hing.

      "Elion", stieß Dhesara entsetzt hervor. "Elion!"

      Das Wesen kroch an ihr vorbei, nur ein Wimmern war zu vernehmen, mit nichts sonst reagierte das Mädchen auf ihren Ruf; es kroch immer weiter, als gebe es sie nicht und keine Akademie, keine Stadt, keine Tore, keine Mauern. Nichts.

      Ein heftiges Keuchen ließ Dhesara von der Kriechenden aufblicken. Aus dem Dunst tauchte nun eine große Gestalt in leuchtendem Rot auf. Wieder bereitete sich die Walküre auf einen Angriff vor; doch nun war es ein Priester, der sich ihr näherte.

      Auch er stutzte zuerst, als er sie sah, doch dann hellten sich seine Gesichtszüge auf. "Tochter Elions!", rief er und lief auf sie zu. "Hilf mir, diese Sünderin rasch wieder einzufangen, auf dass sie keine Unruhe und Unzucht in Eure heilige Stätte bringe!"

      Ratlos und angewidert blickte Dhesara wieder zu dem Geschöpf, das quälend langsam weiter auf die Akademie zu kroch. "Was ist ihr denn geschehen?", fragte sie den Priester. Vermutlich hatten die heiligen Männer sie aus harter Hand befreien müssen und waren noch nicht dazu gekommen, ihre Wunden zu versorgen.

      Auf der Stirn des Priesters erschienen ernste Falten. "Diese Frau ist eine hartnäckige Sünderin und Hexe, Tochter Elions. Um ihre Mittäterinnen zu finden, müssen wir alles tun, um sie zum Reden zu bringen." Mit einigen Schritten war er bei dem Geschöpf und riss es hoch. Wie einen Sack warf er sich die junge Frau über die Schulter. "Es ist eine schwere Pflicht." Mit diesen Worten verschwand er, das Bündel über seinen Schultern, wieder im Dunst.

      Für eine Weile konnte sie seine Schritte noch hören. Und ein leises Wimmern.
      "How very fitting that they would build a prison for mages in the middle of a lake and make it look like a giant phallus." (Morrigan)

      „Man kann keine neuen Ozeane entdecken, hat man nicht den Mut, die Küste aus den Augen zu verlieren.“
      (André Gide)
    • Frieden kehrte in Dhesaras Gemüt ein. Ihr Platz, auf einer rauen, warmen Mauer, die von der Sonne beschienen wurde... Den Blick fort von Calpheon, auf die umgebenden Wälder und Auen gerichtet, gelang es ihr zum ersten Mal seit Wochen, aus ihrem Kopf zu schieben, was sie ihre Ruhe gekostet hatte. Doch auch hier gelang es ihr nur kurz.

      Unzählige Träume hatten den ruhigen Schlaf abgelöst, in dem sie sich früher so gut hatte erholen können. Sie träumte von jungen, unschuldigen Mädchen, deren Gesichter sich plötzlich zu Fratzen verzerrten. Doch wenn Dhesara auf sie zu trat und Elion anrief, um die offensichtlichen Monster zu vernichten, dann entdeckte sie plötzlich, dass die Körper unter diesen Fratzen entsetzlich verstümmelt und verwundet waren, dass diese Wesen unter Wunden litten, die ihnen unfassbare Schmerzen verursachen mussten. Hilflos stand sie dann vor ihnen, rief wieder Elion an. Doch keine Antwort kam. Elion blieb stumm, schickte ihr keine Kraft, kein Licht. Ließ sie allein.

      Immer wachte sie an dieser Stelle auf.

      "Was sitzt du denn hier rum?", hörte sie plötzlich eine helle Stimme neben sich. Mariánne schob sich neben sie auf die Granitmauer. "Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen." Mit der Linken wischte ihre Freundin sich eine rote Strähne aus dem Gesicht.

      "Ich habe gar nichts gesehen", erwiderte Dhesara unwirsch. Sie hatte Miriánne nicht von der gespenstischen Begegnung erzählt. Sie hatte niemandem davon erzählt. Wer unter den Walküren würde verstehen, wie schockiert sie war? Wer von den Priestern würde ihre Nachfragen billigen? Es ging doch um eine Hexe, eine Sünderin, die Elion ins Gesicht spucken würde, wenn sie ihm begegnete. Glücklicherweise war Mariánne mit einem anderen Thema beschäftigt.

      "Hast du gesehen? Wir haben morgen Nacht gemeinsam Wache", plauderte ihre Freundin. "Das wird toll." Begeistert stubste sie Dhesara in die Seite, strahlte sie an. Als Dhesara eher höflich nickte, wurde Mariánnes Blick ernst. "Was ist denn mit dir los? Du hast dich irgendwie verändert, Dhesara." Mit der Rechten ergriff sie eine Strähne von Dhesaras Haar, das der Wind flattern ließ. "Du hast dir schon viel zu lange die Haare nicht mehr gefärbt! Die sind mehr blond als rot!"

      Es war einfach zu viel. Dhesara schwang ihre Beine herum und sprang von der Mauer. "Lass mich doch einfach in Ruhe", stieß sie hervor. Dann eilte sie die Straße hinab, so schnell sie es im Gehen konnte.
      "How very fitting that they would build a prison for mages in the middle of a lake and make it look like a giant phallus." (Morrigan)

      „Man kann keine neuen Ozeane entdecken, hat man nicht den Mut, die Küste aus den Augen zu verlieren.“
      (André Gide)
    • "Das tut mir Leid!" Dhesara sah erschrocken eine Kiste zu Boden fallen und Äpfel in alle Richtungen kullern. Eine große Frau mit beinahe rosafarbenem Haar sah ihnen seufzend nach. Sie beide bückten sich rasch, um die Früchte einzusammeln. "Das lag an mir", stellte Dhesara fest. Sie war in Gedanken die Straße zum Tor hinunter gegangen und gegen die Fremde geprallt. Eine Fremde, die hervorragende, Rüstung trug, wie Dhesara mit Kennerblick fest stellte. Hervorragende Rüstung, die violett schimmerte. War sie eine von ihnen?

      Blinzelnd verneinte die Fremde, als sie sie fragte, ob sie Walküre sei. "Nein, aber das denken einige." Sie heiße Neliko, verriet sie, und sei eine Ritterin des Falkenordens, der hier noch nicht sehr bekannt sei. Dhesara konnte Stolz in ihrer Stimme hören, als sie von dem Orden sprach. "Was bedrückt Euch?", fragte Neliko sie. Ihre Stimme klang fürsorglich, und ehe sie sich versah, begann Dhesara, zu reden.Vorsichtigerweise schlug sie vor, ein wenig aus der Stadt heraus zu spazieren.

      Sie landeten bei dem kleinen Fischerhaus am Fluss und setzten sich auf die Baumstämme, die dort lagen. "Wisst Ihr... Ich stelle mir einfach Fragen", sagte Dhesara, aber sie stellte die nächste Neliko: "Was wisst Ihr über Hexen?"

      "Hexen? Was genau meint Ihr damit? Magier, die ihre Kräfte für böse Zwecke einsetzen?"

      "Sind sie das?", fragte Dhesara zurück. "Immer? Und: Warum sind sie das?"

      Anders als die Walküren oder gar die Priester reagierte ihre neue Bekannte abwartend und hörte ihr erst einmal zu. Dhesara erzählte ihr von dem Erlebnis, das ihr keine Ruhe mehr gelassen hatte.

      "Lasst mich raten", erwiderte Neliko. "Der Priester versicherte Euch, dass sie im Auge des Glaubens eine Hexe war und sie so behandelt werden müsste. Aber Ihr stellt das in Frage, und das Wort eines Priesters anzuzweifeln, das bereitet Euch Angst?"

      "Ich habe mich geekelt, so schlimm sah sie aus. Aber auch völlig hilflos." Dhesara erzählte weiter, von den Träumen. Von ihren Zweifeln. Von ihrer Unsicherheit.

      "Wisst Ihr, ein Vater mag Anforderungen an seinen Sohn haben, ein Herr mag Gehorsam fordern. Aber seid Euch bewusst, Eure Seele gehört Euch allein. Am Ende, wenn Ihr vor Eurem Schöpfer steht, könnt Ihr nicht sagen, man hat Euch befohlen, so oder so zu handeln. Also müsst Ihr entscheiden, was für Euch richtig ist." Neliko legte ihr die Hand auf die Schulter und gab ihr einen freundlichen Ruck. Es war so, als habe ein freundlicher Engel auf ihre Hilferufe gehört.

      "Ich verstehe", sagte Dhesara ruhig. In ihr war Kälte, aber unter der Eisdecke die tief in ihr Inneres reichte, spürte sie, wie sich etwas regte. So, als erwache ein Keim, der zu einem Baum zu wachsen träumte.

      "Wenn Ihr für Euch einmal einen neuen Platz sucht, dann lasst es mich wissen. Ich helfe Euch gern." Neliko schenkte ihr zum Abschied einen Apfel. Auf dem Narro-Hof nördlich der Stadt sei sie zu finden, sagte sie.

      "Der Narro-Hof." Dhesara nickte. "Ich werde es mir merken."
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    • Wie im Traum stieg sie von Rebells Rücken, ging einige Schritte und ließ sich dann auf einen Haufen Steine sinken, der dort weiterer Verwendung harrte. Der Narro-Hof schien eine Mischung aus Ruine und Bauplatz zu sein, doch Dhesara sah mehr in ihre eigene Leere, als auf die Gebäudereste und Holzkonstruktionen um sie herum.

      Nelikos "Hallo" riss sie aus ihren Betrachtungen. Tonlos erwiderte sie den Gruß und erklärte dann zusammenhanglos, dass es ihr Pferd sei, das dort stünde. Deshalb habe sie es mitgenommen. Denn sonst hatte sie nichts eingepackt, nicht einmal ein zusätzliches Paar Stiefel. Es schien ihr nicht Recht zu sein. Doch Rebell war ein Geschenk ihres Vaters gewesen. Sie liebte ihr Pferd.

      "Im Stall ist noch Platz für ein weiteres Pferd." Die Stimme der jungen Ritterin klang sanft. Sie spürte sofort, dass etwas nicht stimmte. "Wenn du darüber reden willst", bot sie mit einem Lächeln an. Dhesara schrak zusammen. "Wenn ich rede, schickt Ihr mich weg!", flüsterte sie.

      "Wieso sollte ich dich wegschicken? Steckst du in Schwierigkeiten?"

      Nur mühsam brachte die ehemalige Walküre es über die Lippen. "Ich habe meinen Vater k.o. geschlagen."

      Neliko setzte sich neben sie und legte ihr eine Hand auf die Schulter. "Und wieso hast du das getan? Nur langsam, eins nach dem anderen."

      Mit dem schrecklichen Gefühl, selbst die Tür wieder zuzuschlagen, auf die sie zu geflohen war, berichtete Dhesara stockend: Wie sie vor den Ausbilderinnen flammend erklärt hatte, warum sie keine Walküre sein könne, und die sie mit offenem Mund anstarrenden Frauen dann stehenden Fußes verlassen hatte. Noch einmal hörte sie die hallenden Tritte ihrer Stiefelabsätze auf dem Steinboden der Akademie.

      Wie sie nach Hause geritten war, ihrem Hort der Sicherheit und Zuflucht, und bei dem Essen, das ihre Mutter für sie hatte zubereiten lassen, von ihrer Entscheidung erzählt hatte. Wie ihre Eltern ihr entsetzt sagten, sie werfe alles in den Dreck und bereite ihnen Schande, und ihr Vater mit unduldsamen Blick entschieden hatte, sie nun so schnell als möglich zu verheiraten, während auf ihrem Teller die Bratensoße zu Gelee erstarrte. Wie er sie am Arm die Treppen hoch gezogen hatte, auf ihr Zimmer zu, um sie dort einzusperren. Wie ihre Faust schließlich an sein Kinn geschnellt war und er ohne einen Laut zu Boden gegangen war.

      Beinahe mechanisch hatte sie dann den Weg aus dem Fenster gewählt, bevor jemand hatte von den Geschehnissen Notiz nehmen können, und war auf Rebell davon geritten, eine ganze Weile lang durch den Fluss, damit ihr niemand würde folgen können... Bis zum Narro-Hof, von dem Neliko ihr erzählt hatte.

      "Er wollte dich ungerecht zu etwas zwingen und du hast dich nur verteidigt", argumentierte Neliko und ruckelte sie an der Schulter. "Es tut mir Leid, dass es dazu gekommen ist, aber es ist nunmal passiert. Möchtest du vielleicht, dass ich einmal mit ihnen rede?"

      Entsetzt sah sie Neliko an. "Wenn sie wissen, wo ich bin, werden sie mich zwingen! Ich bin..." Sie biss sich auf die Zunge.

      "Sie werden gar nichts. Was bist du?"

      Zaghaft erklärte sie, dass sie in sechs Wochen gerade einmal achtzehn Jahre alt wurde.

      Nelikos Gelassenheit ließ nicht nach. "Bevor du nicht zustimmst, kann dich niemand zwingen. Sind die Leute hier wirklich so unzivilisiert? Dazu würdest du selbst und auch ich es nie kommen lassen."

      Voller Hoffnung blickte Dhesara in Nelikos Augen. "Ihr werdet mir dabei helfen?"

      "Selbstverständlich. Ich lasse nicht zu, dass Unrecht geschieht, sofern ich es verhindern kann."

      Auf Dhesaras Bitte vereinbarten sie, dass Dhesara auf dem Hof bleiben und ihr helfen würde. In sechs Wochen dann würden sie gemeinsam zu ihren Eltern reiten. Gemeinsam sattelten sie Dhesaras auch Reittier ab und fütterten es. "Dein Pferd passt zu dir", sagte Neliko. "Du sagtest doch, sein Name sei Rebell, nicht?"
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      „Man kann keine neuen Ozeane entdecken, hat man nicht den Mut, die Küste aus den Augen zu verlieren.“
      (André Gide)