Dunkel


    • Reglos lag Aithne auf ihrem einfachem Lager und blickte die Decke an. In der Dunkelheit waren nur schwache Schemen auszumachen, doch das störte die Frau nicht. Sie war die umklammernde Dunkelheit gewohnt, sie war ein Teil ihrer Selbst geworden. Sie fuhr sich über das Gesicht und richtete sich langsam auf. Blinzelnd haderte sie dem aufkommendem Schwindel, wie jedes Mal, wenn sie sich aufrichtete. Lang vergangen waren die Zeiten, in denen sie voller Energie und Freude gewesen war, nichts davon war übrig geblieben. Es gab Zeiten, da hatte sie die aufkommende Schwäche verflucht, doch mittlerweile fehlte ihr selbst dazu der Willen. Sie existierte einfach, wie ein Geist, der nichts mit sich anzufangen wusste. Wann hatte sie das letzte Mal an ihre Vergangenheit, an ihr altes Leben gedacht? Sie konnte sich nicht erinnern, sie hatte selbst Gefühl für verstreichende Zeit verloren. Für Aithne war es, als wäre sie aus der Zeit eingefallen und auf einer Stelle eingefroren.

      Als sie sich sicher war, dass sie sich aufrichten konnte, ohne in Knie gehen zu müssen, drückte sie sich vorsichtig von ihrer Schlafstätte ab. Langsam lenkte sie ihre Schritte zu einem kleinen Tisch. Sie benötigte kein Licht, denn sie kannte den Raum, der seit vielen Jahren ihr Zuhause und Gefängnis war, bis ins kleinste Detail. Schwierig war es nicht, denn er war nur sehr karg eingerichtet. Sie tastete nach der Waschschüssel und benetzte ihr Gesicht mit dem kühlen, schalem Nass. Mochte es einst belebend gewirkt haben, so war es nur noch eine Routine, etwas, das sie eben tat, wenn sie aufgestanden war. Langsam griff sie nach ihrer einfachen Robe und schlüpfte hinein. Danach strich sie sich die Haare mit den Fingern etwas ordentlich und tastete sich vorsichtig zu der alten, modrigen Tür, die ihren Raum verschloss. Sie öffnete diese langsam und trat in einen größeren, mit mehreren Kerzen beleuchteten Kellerraum.

      Das flackernde Licht der Kerzen lies die Frau blinzeln, sie verengte die Augen, bis sie sich an das Licht gewohnt hatten. Das dämmrige Licht, das andere noch als schummrig erachtet hatten, war für sie hell wie der Tag und blendete sie in den ersten Momenten immer. Sie blickte über den Raum, dessen Boden mit grauen, grob gemeißelten Steinfliesen ausgelegt war. Die Wände bestanden ebenfalls aus Stein. Fenster gab es keine. Aithne wusste, dass sie sich unter der Erde befand, deshalb hätten diese auch keinen Sinn ergeben. Die Wände waren voller Regale, gefüllt mit Reagenzgläsern, kleinen Fässern und verschiedensten Gerätschaften. Die Mitte des Raumes war von zwei massiven Holztischen dominiert, die Maserung des Holzes ließ auf eine Herkunft aus Mediah schließen. Mediah... ihr einziger Anhaltspunkt auf den Ort, an dem sie sich befand. Sie konnte sich nicht erinnern, wie sie an diesen Ort gebracht worden war, die meiste Zeit hatte man sie wohl bewusstlos gehalten. Langsam strich sie mit ihrer blassen Hand über das Holz, das viele Alterserscheinungen aufwies. Kerben, Risse, Flecken von Flüssigkeiten und sogar kleine Brandstellen ließen erkennen, dass die Tische für viele verschiedene Arbeiten genutzt wurden.

      Aithne atmete langsam ein und aus, der schwarze Mann war spät. Seit Jahren war er immer zur selben Zeit aufgetaucht, sie hatte schon früh gelernt, dass er sehr genau auf Zeit, Ausführung und Korrektheit Wert legte. Dinge, die für die Alchemie wichtig waren. 'Wo bleibst du, schwarzer Mann?' hauchte sie kaum hörbar. Ihre Stimme war schwach wie ihr Körper geworden. In den ersten Wochen und Monaten ihrer Gefangenschaft hatte sie sich tagelang die Wut und Angst aus dem Leib geschrien, doch irgendwann hatte sie erkannt, dass es nichts nutzte, ihr niemand zur Hilfe kommen würde. Das sie allein war und alles verloren hatte. Ihren Mann, ihre kleine Tochter. Wo vor Jahren noch der Schmerz an diese Erinnerung ausgebrochen war, so war nur noch Leere übrig geblieben. Es war lange her, als sie die letzte Träne geweint hatte. Der Anblick ihres Mannes Adair, wie er ungläubig auf das Schwert, das sein Herz durchbohrt hatte, starrte, hatte sich tief in sie eingebrannt. Doch wo die Erinnerung einst Schmerz und Wut verursacht hatte, hinterließ sie nichts mehr. Es war, als wäre sie Teil eines anderen Lebens. Was ihre Tochter anging... sie wusste nicht, ob das kleine Kind überlebt hatte. Noch deutlich konnte sie sich an das Gebüsch mit dem vielen Moos erinnern. Der Ort war wie eine kleine Wiege gewesen. Adair war gestorben, um Aithne und dem Kind die Flucht zu ermöglichen, doch weit war sie nicht gekommen, die kleine Tochter hatte sie während ihrem Fluchtversuch schnell dort abgelegt. Sie wusste, dass man wohl kurz nach dem Kind gesucht hatte, doch als man Aithne wieder ergriffen hatte, war die kleine nicht mehr als Druckmittel nötig gewesen. Aithne krallte ihre Nägel in das alte Holz. Sollte sie nicht wütend sein? Vor Sorge verzweifeln? Doch sie spürte... nichts. Es spielte keine Rolle mehr, die kleine war mit ihrem altem Leben verschwunden. Ihr jetziges Leben, wenn man es so nennen wollte, bot keinen Platz für Wünsche und Hoffnungen, ihr Dasein war nur noch Zweckgebunden. Wieder blickte sie auf, den schwarzen Mann erwartend.
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      Mendred: "... aber mit dem Schwert geht's schneller."

    • Es sollte noch fast den halben Tag dauern, bis der schwarze Mann sich in die Kellerräume bemühte. Aithne hatte damit begonnen, alle Reagenzien zu sortieren. Als sie feststellte, dass einige wichtige Dinge fehlten, machte sie eine Bestandsaufnahme und fertigte eine Liste von Dingen an, die nötig waren. Vor Jahren hatte sie sich geweigert, nur die geringste Sache für diese Leute zu tun, doch Folter und Gefangenschaft hatten sie letztlich davon überzeugt, dass sonst nur noch der Tod übrig geblieben wäre. Sterben war keine Option, zumindest nicht, was diese Leute anging. Sie wollten ihre alchemistischen Fähigkeiten und sehr dahinter, dass sie am Leben blieb. Letztlich hatte sie sich ihrem Schicksal ergeben und ihnen ihre Fertigkeiten in der Alchemie zur Verfügung gestellt. Der einzigen Sache, die ihr etwas bedeutete und ihr geblieben war.

      Sie betrachtete gerade einen der Katalysatorkristalle, als sich die schwere Eisentür öffnete, und der schwarze Mann darin erschien. Sie wusste nach all den Jahren noch immer keinen Namen, er hatte es nicht für nötig gehalten, ihr einen zu nennen. Deshalb hatte sie ihm für sich diese Bezeichnung gegeben. Der Mann trug weite Roben, über dem Torso eine einfache, geschwärzte Lederrüstung. Sein Umhang überdeckte die rechte Körperhälfte und den Rücken. Soweit Aithne im Zwielicht erkennen konnte, hatte er dunkle Haut und rabenschwarzes Haar, dass ihm lose weit in den Rücken fiel. Aithne fiel eine neue Narbe auf, sie legte den Kopf schief. Ihr fragender und verwunderter Blick blieb nicht unbemerkt, als der Mann an den Tisch herantrat.

      "Wir haben eine neue Sorte Kristall entdeckt, untersuche ihn auf seine Eigenschaften und Nutzungsmöglichkeiten," erklärte er und holte einen Beutel hervor, ohne auf Aithnes nicht gestellte Frage einzugehen.
      Sie nickte und überlegte einen Augenblick. "Herr, darf ich eine Frage stellen?" fragte sie vorsichtig.
      Fast hatte sie geglaubt, ihre Stimme würde versagen, doch obwohl sie wie immer recht leise gesprochen hatte, hatte der schwarze Mann sie wohl verstanden. Er hob eine Augenbraue und bedeutete ihr, zu sprechen.
      "Ich arbeite schon lange für Euch, habe Euren Wünschen Folge geleistet, ohne mich wie zu Beginn dagegen zu arbeiten. Ich möchte das auch weiterhin tun, aber als wirkliches Mitglied und nicht als Gefangene. Ich kann viel mehr tun, wenn ich mich freier bewegen kann. Es könnte Zeit und Aufwand sparen. Alchemie ist alles, was mir geblieben ist, ich will mein ganzes Potenzial ausschöpfen."
      Ruhig blickte sie den Mann an. Viele Monate hatte sie mit der Entscheidung gehadert, weitere Monate, um sie gedanklich genauer zu begreifen. Ja, sie wollte mehr tun. Die Alchemie aber auch ihre Magie vollständig dazu nutzen, ihre Fähigkeiten weiter zu verbessern. In diesem Keller würde sie immer nur auf der selben Stelle treten und nichts erreichen,
      Der schwarze Mann musterte sie eindringlich. So wie sie seine Eigenschaften und Persönlichkeit über die Jahre kennen gelernt hatte, so hatte er auch sie genau beobachtet. Er wusste, wie sie tickte, welche Pfade ihre Gedanken wandelten, denn obwohl er was Alchemie anging, Aithne nicht das Wasser reichen konnte, so verstand er mehr als genug, um zu wissen, zu was die Frau in der Lage war.
      "Ich werde darüber nachdenken," erklärte er und schob den Beutel in die Tischmitte.
      "Aber zuerst will ich wissen, ob dieser Kristall verwertbar ist." Mit diesen Worten wandte er sich ab und verließ den Raum. Geräuschvoll wurde die Eisentür wieder verschlossen, Aithne blieb wieder allein im Halbdunkel zurück.

      Sie beugte sich vor und zog den Beutel zu sich heran. 'Ich werde darüber nachdenken' war zwar noch weit entfernt davon, dass er sich wirklich damit befassen würde, aber so wie sie ihn kannte, bestand zumindest eine klein Chance, dass er sich tatsächlich damit befassen würde. Ihre Chance, dass er sich darauf einlassen würde, war noch immer verschwindend gering. Aber vielleicht, wenn sie diesem Kristall hier einen besonderem Nutzen entlocken konnte, würde es ihre Chancen steigern. Vorsichtig öffnete sie die Bänder des Beutels und tastete ins Innere. Sie griff nach dem Kristall, strich dabei schon über seine raue, unbearbeitete Oberfläche. Als sie ihn letztlich in ihrer blassen Hand hielt, sog sie erstaunt die Luft ein. Seine matte Oberfläche war komplett schwarz, nicht einmal das flackernde Kerzenlicht konnte ihm eine Reflexion entlocken, es war eher, als würde er alles Licht in sich aufsaugen.
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      Mendred: "... aber mit dem Schwert geht's schneller."

    • Aithne hatte kaum gemerkt, wie die Zeit vergangen war. Irgendwann war Riji, eine Frau mittleren Alters, mit einem Essenskorb in den Keller gekommen. Riji war so etwas wie Aithnes Gehilfin, die nebenbei das, was Aithne tat, überwachte. Der schwarze Kristall war in der Tat ungewöhnlich, es schien, als würde er alles, was die beiden Frauen mit ihm ausprobierten, in sich aufsaugen und speichern. Leider erwies sich diese Eigenschaft als hinderlich, denn es ließ keine Schlüsse auf sein Inneres zu. Während Aithne die Kristallstruktur genauer untersuchte, beauftragte sie Riji damit, eine Schicht des Kristalls abzuschaben, um das Pulver auf seine Eigenschaften zu untersuchen. Dies kostete die beiden einige Werkzeuge, da sie recht schnell erstumpften.

      Irgendwann ließ sich Aithne auf einem der Stühle nieder und schloss die Augen. "Riji, weißt du, woher dieser Kristall stammt? Er ist sehr ungewöhnlich und ich habe das Gefühl, dass mir zu ihm ein Puzzlestück fehlt. So als wäre er nur nur eine Seite einer Münze," fragte sie mit leiser Stimme, aus der die Erschöpfung des langen Arbeitstages deutlich zu bemerken war.
      Riji strich sich durch ihr dunkelbraunes Haar und machte ein nachdenkliches Geräusch. "Ich weiß es nicht genau, aber es wurde nicht aus einer Höhle oder einem Steinbruch geschlagen, ich hörte etwas von einer Schiffsladung, es wäre also möglich, dass es von weit weg stammt."
      Aithne atmete einige Male konzentrierter. Ihr Kopf schmerzte und sie bezweifelte, dass sie so bald wieder aufstehen konnte. Sie verfluchte ihre körperliche Schwäche für einen Augenblick, bis sie wieder die Kraft für weitere Worte hatte.
      "Kannst du versuchen, mehr zu erfahren? Ich muss wissen, ob es weitere Steine oder besondere Materialien bei dieser Ladung gefunden wurde. Irgendetwas, das mit diesem Kristall hier in Verbindung stehen könnte. Für heute... ich muss ruhen, ich habe keine Kraft mehr," erklärte sie und überlegte, wie sie in ihr Bett gelangen sollte. Jiri, die über Aithnes Schwäche gut Bescheid wusste, umrundete den Tisch und half ihr auf die Beine und stützte sie. Es dauerte einige Augenblicke, bis die schwächliche Frau sich halten konnte. Riji begleitete Aithne ins Nebenzimmer zum Bett, wo sich diese kraftlos in die Kissen fallen ließ.

      Aithne bemerkte gar nicht mehr, wie Riji den Raum und letztlich das Kellergewölbe verlassen hatte, sie war direkt in einen dunklen, traumlosen Schlaf gefallen.
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      Mendred: "... aber mit dem Schwert geht's schneller."