Langeweile
Langeweile, Langeweile, Langeweile, ritzte Serania mit einem Stein in dem Felsen ihres Kerkers. Seit mehreren Tagen war sie bereits gefangen. Wie viele es waren, wusste sie nicht. Sie sah kein Sonnenlicht und sie hatte nicht mitgezählt, wie oft sie geschlafen hatte und sie wusste auch nicht, ob sie regelmäßig schlafen ging. Aber sie glaubte, dass ihr Gastgeber einmal täglich zu ihr kam. Vielleicht aber auch nicht. Zu ihren Füßen war ein Zahlenrätsel in den Sand geschrieben. Es war ein neun mal neun Raster, das zusätzlich in Feldern aus je drei mal drei Kästchen eingeteilt war. Somit gab es neun Reihen, neun Spalten und neun Felder. In jede Reihe, Spalte und in jedes Feld mussten die Zahlen eins bis neun geschrieben werden, ohne dass sich eine Zahl wiederholte. Fünf Zahlen waren vorgegeben.
In den ersten beiden Stunden, nachdem der Geist, Serania nannte ihn nun Knurps, das letzte Mal verschwunden war, hatte sie das Rätsel einfach ignoriert. Es war ein stiller und vollkommen wirkungsloser Protest. Doch ihr Blick war immer wieder zu den Zahlen gewandert und ihr Kopf hatte ganz unfreiwillig begonnen, nach Lösungen zu suchen. Schlussendlich überwand sie sich, zeichnete ein neues Raster und schrieb die Zahlen ab. Dann fing sie an, das Rätsel zu lösen. Zuerst dachte sie, es sei ein Kinderspiel, doch nachdem sie die ersten dreißig Zahlen ausgefüllt hatte, stieß sie auf einen Fehler. Also hatte sie es weggewischt und von vorne begonnen. Es hatte ein Dutzend Anläufe gebraucht und jeder dauerte länger, bis sie erkannte, wie sie Fehler verhindern konnte. Und wenn sie dann nicht mehr weiterkam, hatte sie ein neues Raster in den Boden gezeichnet, die Zahlen übertragen und einfach probiert.
Oft gab es sowieso nur zwei Möglichkeiten und beide waren schnell probiert. Am Ende war sie müde doch sie hatte das Rätsel gelöst. Ob sie es zugeben wollte oder nicht, es hatte Stunden gedauert, Stunden in denen ihr nicht langweilig war. Stunden, in denen sie die Zahlen und Knurps beschimpft und verflucht hatte, in denen sie voller Wut ein Raster auslöschte, aber sich auch freute, wenn sie wieder eine passende Zahl gefunden hatte und am Ende die Freude und Erleichterung, als alle einundachtzig Felder fehlerlos befüllt waren.
Pampero, der kleine Fennek, der bei ihr lebte, war die meiste Zeit irgendwo im Schatten gewesen. Zwischendurch kam er hervor, um zu sehen, was Serania trieb oder um an der Wasserstelle zu trinken. Der Wüstenfuchs war über eine Art magisches Band mit ihr verbunden worden und erlebte somit ihre Emotionen mit. Auch umgekehrt spürte sie, was in Pampero vorging. Zu ihrem Glück, war das Tier recht einfach gestrickt und wenn er nicht gerade von Knurps geärgert wurde, ruhig oder höchstens mal neugierig. Die meiste Zeit schlief er.
Serania versuchte, den Informationsaustausch über die Verbindung so gering wie möglich zu halten, denn es war wieder etwas, das ihr einfach so aufgezwängt wurde. Sie hatte eine ähnliche, wenn auch deutlich losere Verbindung zu ihrer Mentorin aufgebaut, über die sie feststellen konnte, wie es Teleniel ging und umgekehrt auch. Aber das war mehr wie eine Intuition, nichts Greifbares. Es war das Wissen in ihrem Hinterkopf, dass es Teleniel gut ging oder dass sie sich gerade ärgerte oder wütend war, nicht mehr. Pampero hingegen… Es lag nicht daran, dass er kein Mensch, sondern ein Tier war, sondern die Art der Verbindung, die Knurps hergestellte, nachdem er ihre Bindung zu Teleniel gekappt hatte, war fester, tiefergehender. Wenn sie durstig war, ging der Fennik zur Wasserstelle. Wenn er müde war, fielen ihr die Augen zu. Es war unheimlich, intim aber auch faszinierend. Wüsste sie nicht über Knurps‘ Interesse daran, hätte sie vielleicht selbst mehr erforscht. So jedoch versuchte sie es zu verdrängen.
Pampero hob sein Köpfchen und sah zu Serania, als wüsste er, dass sie gerade an ihn dachte. Der Blick war herzerweichend. Die junge Walküre seufzte, legte den Stein nieder, mit dem sie die drei Worte in die Wand geritzt hatte und trat ebenfalls an das Wasser heran. Sie setzte sich mit ausgestreckten Beinen auf den sandigen Boden. Der Fennik trotte zu ihr herüber und legte sich auf ihren Schoß. Er ringelte sich ein und schloss die Augen.
In diesem Moment wurde Serania sich wieder ihres Körpergeruchs bewusst. Seit mindestens zwei Tagen hatte Knurps ihr ein Bad verweigert. Es wäre so einfach gewesen, wenn er ihr einen Eimer gegeben hätte, wie sie es wollte. Dann hätte sie Wasser zum Waschen schöpfen können, denn sie wollte sich nicht in dem Teich, aus dem sie trank, baden. Doch stattdessen hatte er den Teich für einige Minuten in ein warmes Bad verwandelt und sie einmal waschen lassen. Sie legte sich mit dem Rücken in den Sand und ließ den jungen Fuchs auf sich einschlafen. Die Geruchswahrnehmung wurde geringer, der Wunsch nach einem duftenden, warmen, reinigenden Bad nicht.
Serania öffnete die Augen, sie war eingeschlafen. Pampero lag nun neben ihr und die gleichmäßige Bewegung seines Fells zeigte, dass er noch schlief. Die Höhle war unverändert. Sie stand auf und betrachtete nochmals das Zahlenrätsel. Knurps meinte, er würde ihr nur etwas zu essen geben, wenn sie das Rätsel lösen könnte. Sie schmunzelte und lernte die Zahlen auswendig. Das war einfach, denn es gab logischerweise ein gewisses Schema in den Zahlen. Dann löschte sie ihre Lösung und es blieb nur noch das Aufgabenfeld selbst bestehen. Sie war neugierig, wie er darauf reagieren würde.
Seine Reaktion auf den Namen, den sie ihm gab, war ja leider eine Enttäuschung gewesen, da er mehr oder weniger gar nicht darauf einging. Dabei hatte sie sich bemüht, einen möglichst lächerlichen Namen zu wählen und da der Geist sich erdreistete immer wie Teleniel auszusehen, gab sie ihm auch einen männlichen Namen - aus Prinzip. Knurps hatte sie als Kind ein Kaninchen getauft. Dass es Monate später als Braten auf dem Tisch landete, hatte die Wahl bekräftigt, obwohl sie als Kind entsetzt war, dass ihr Knurps genauso gegessen wurde, wie die Hühner oder Schweine oder anderen Kaninchen.
Serania begann um den Teich herumzulaufen. Die Bewegung sollte die Müdigkeit aus den Knochen vertreiben. Außerdem wollte sie fit bleiben, für den Tag, an dem Teleniel auftauchen und Knurps den Hintern versohlen würde.
"Japan ist ein wenig so wie Österreich: da hast du erstens das Meer..." 
