Schall und Rauch

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    • Schall und Rauch


      Fremde Haut

      Velia, am Abend
      Die Baja Brago, Handelsflaggschiff des Kaufmanns Dolan aus dem Hause Arrántir
      In der Kapitänskajüte

      Es ist frostig kalt in Velia.

      Hier, an der Nordküste von Balenos, wo es überall nach salzig-fauligem Fisch und feuchten Holzbrettern riecht. Es ist kein Ort, an dem ich mich gerne aufhalte. Kein Ort, zu dem ich mich aus freien Stücken aufmachen würde. Aber mein derzeitiger Auftrag erfordert es leider. Und ich kann vorerst nichts dagegen tun. Florierend, idyllisch, weltoffen ist Velia, behauptet man hier. Hinterwäldlerisch, dreckig und wichtigtuerisch, sage ich.

      Eigentlich will ich bloß weg von hier. Egal, wohin. Velia lässt mich an Epheriaport denken. Ungefragt. Aufdringlich. Stetig. Es will mir nicht aus dem Kopf gehen. Und zieht mich zurück an einen Ort, an den ich nicht zurückkehren will.

      Diese blasse, neblige Erinnerung, die aus der Tiefe an die Oberfläche schwappt wie ein fauliger, mit Gas gefüllter Leichnam, ist etwas, das ich jetzt wirklich nicht gebrauchen kann. Mit ihr kommt das schlechte Gewissen. Das immerwährende, konstante Gefühl, dass ich kläglich versagt habe. Gescheitert bin. Auf ganzer Linie. Dass es meine letzte Gelegenheit war und ich dich niemals wiedersehen werde. Dass du zum Greifen nahe warst und mir doch aus den Fingern geglitten bist.

      Ich fühle, wie dieser Gedanke sich in meinen Kopf frisst. Er kriecht über den Knochen meiner Schädeldecke und saugt sich daran fest. Klafft wie eine eitrige, übel riechende Wunde. Offen und blutig. Will einfach nicht abheilen und flüstert mir ständig zu, dass ich kränklich und schwach bin. Und dass ich nicht gesund werde, bis ich diesen katastrophalen Fehler begradigt habe.

      Bis dahin wird dieser Gedanke also in mir bleiben. Mich wahnsinnig machen. Rastlos. Getrieben.

      Vor allen Dingen wird er mich von meinem eigentlichen Ziel ablenken. Also muss ich ihn zurück unter die Oberfläche zerren. Ein großes Grab schaufeln, ihn hineinstoßen und mit Erde zuschütten, auf dass er schweige. Auf dass das Flüstern darunter ersticke und ich wieder klar denken kann. Zumindest solange, bis ich habe, wofür ich hergekommen bin.

      Ich seufze auf. Lehne meine Stirn an das kalte Glas und betrachte wortlos die Spiegelung meines Gesichts. Blass siehst du aus, Iskander. Blass und fahl wie ein kalter, starrer Leichnam. Und müde. So unendlich müde mit deinen erschöpften Augen und deinen dicken Tränensäcken. 'Es liegt bloß an der weißen Schminke und dem weißblond gefärbten Haar, dass du so kreidebleich aussiehst', sage ich mir wieder und wieder. Aber es ist gelogen. Ein erbärmlicher Erklärungsversuch, ich weiß. Aber ich muss mich irgendwie zurück auf die Füße ziehen und mir die Müdigkeit aus den kraftlosen Knochen schütteln. Mich aufraffen und diese lächerliche Scharade noch ein bisschen aufrechterhalten. Iskander, der Stiefel leckende Magier aus Valencia. Die fremde Haut, die ich mir übergestülpt habe.

      Ich bin bald am Ziel. Ich weiß es. Ich kann es regelrecht fühlen. Wie die eisige Kälte des Fensterglases, das an meine kochend heiße Stirn gepresst ist. Ich muss bloß noch etwas durchhalten und geduldig bleiben. Der letzte Schritt auf einer tausendstufigen Treppe, die ich über die letzten Wochen, nein, Monate mühselig erklommen habe.

      Ich atme tief durch. Starre kraftlos und müde durch das teils beschlagene Fenster hinaus in den Hafen.

      Die Baja Brago, das ach so majestätische Handelsflaggschiff meines temporären Herrn Dolan Arrántir, ankert in seinem Zentrum und wirkt hier am Ende der Welt wie eine Königin – anmutig, erhaben, stolz und wunderschön. Wäre sie nicht scheußlicherweise umringt von dreckigem Bauerngesindel und gebrechlichen, alten Bettlern. Überall stoßen nämlich notdürftig geflickte Fischerboote und Handelskoggen mit zerfledderten Segeln gegen die Stege, die mit glitschig-schleimigem Algen überwuchert sind. Dazwischen sticht die Baja hervor wie ein regelrechter Fremdkörper.

      Ich weiß nicht, wie wir es mit ihr überhaupt hierhin geschafft haben. Die See ist in der kalten Winterzeit auf der Westroute besonders tückisch. Das derzeit harsche Wetter mit seinen unberechenbaren, stürmischen Winden tut sein Übriges. Trotzdem kamen wir vor zwei Tagen unversehrt, wenn auch etwas durchgeschüttelt in diesem Kaff an. Für geschäftliche Zwecke. Bevor es über den Landweg mit Pferd und Kutsche ins deutlich zivilisiertere Heidel weitergeht.

      Dass Dolan unter geschäftlichen Zwecken auch das örtliche Hurenhaus versteht, ist keine große Überraschung. Oder ein streng gehütetes Geheimnis. Wie in gefühlt jeder Stadt ist er eitel und aufgeplustert wie ein Pfau am gestrigen Abend in das Lusthaus stolziert, um sich fleischlicher Lust hinzugeben und Erleichterung zwischen den Lenden zu suchen.

      Und das alleine.

      Bei Elion und Aalh... alleine. Ohne mich. Das muss ich mir erst einmal auf der Zunge zergehen lassen.

      Ich konnte es kaum glauben. Seit er mich angestellt hat, durfte ich ihm nicht mehr von der Seite weichen. Keine einzige Sekunde lang. Er kettete mich an sich wie einen gehorsamen Wachhund. Wuchs mit seiner Haut und seinem Fleisch an mir fest wie ein siamesischer Zwilling. Schnürte mich in ein eisernes Korsett, geschmiedet aus seiner stetigen Präsenz um mich herum, der ich nicht mehr entfliehen konnte. In jeder Sekunde, die ich bei ihm bin, raubt er mir die Luft zum Atmen. Erstickt mich. Erdrosselt mich. Wie ein Parasit, der sich in meinen Leib gekaut hat und sich tief in meinem Inneren an meiner puren Lebenskraft labt.

      Es ist anstrengend. Kräftezehrend. Erdrückend. Und führt zu teils kuriosen, oft aber unangenehmen Situationen.

      Ich folge ihm bis aufs Klo, während er dort drin vor sich hinfurzt und wirre Selbstgespräche führt. Ich nächtige in seinem geschmacklos dekorierten Schlafgemach auf einer separaten Koje, nur um mir dann unfreiwillig über Stunden anhören zu dürfen, wie er grunzend auf seinem Eheweib herumrutscht. Wie die beiden sich bei wilden Fesselspielchen und schmutzigem Mundwerk die Seele aus dem Leib peitschen und laut herumstöhnen, sodass das ganze Haus es mitbekommt. Sie haben mich mehrfach gefragt, ob ich mitmachen möchte. Ich habe dankend und mit etwas aufsteigender Kotze im Hals abgelehnt. Mir Wattebäusche in die Ohren gestopft in der Hoffnung, es irgendwie erträglicher machen zu können. Auch wenn es wenig half.

      Und warum diese lächerliche Anhänglichkeit?

      Weil er Magie fürchtet. Mehr als alles andere auf dieser Welt.

      Es ist erbärmlich, wirklich. Paranoid. Abstrus. Und enorm peinlich. Aber leider der Grund, weshalb die gesamte Baja Brago mit magischen Artefakten behangen ist wie ein überdekorierter Winterbaum. Zumindest glaubt dieser dumme Narr, dass es sich um magische Artefakte handelt. Dem ist natürlich nicht so. Simpel und billig sollte meine Lösung sein. Also suchte ich auf dem Markt in Altinova in einer zwielichtigen, schäbigen Gasse einige Schmuck- und Souvenirhändler auf und kaufte ihnen ein paar bunte Glassteine ab. Nutzloser Krempel, der rein gar nichts bewirkt. Aber bemalt mit ominösen Runen oder unleserlichen Schriftzeichen aus dem Land der Fantasie und geschmückt mit etwas falschem Gold, sehen sie aus wie uralte Artefakte. Und entfalten so ihre trügerische Wirkung.

      Denn Dolan glaubt an ihre Kraft.

      Die magischen Artefakte sollen böse Geister fern halten. Teuflische Dämonen aus der Hölle. Mit Magie um sich schmeißende Meuchelmörder und Flüche spuckende Hexen. Blanker Unsinn, wenn man mich fragt. Aber ich will mich nicht beklagen. Ohne diese absurde Paranoia wäre ich jetzt nicht hier. Und er hätte mich andiesem Abend nicht alleine zurückgelassen. Draußen, in der frostig-kalten Luft von Velia, bloß, weil ich ihm glaubwürdig aufschwatzen konnte, dass ein magischer Bannkreis die Tanzende Möwe zum sichersten Ort der Welt macht. Und ich als Magier dort drin dann sowieso überflüssig wäre.

      Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, ob es einen derartigen magischen Bannkreis wirklich gibt. Ich habe mir bloß die Hausregeln durchgelesen. 'Magie strengstens untersagt', hieß es dort. Natürlich. Du würdest so etwas nicht zulassen. Nicht in deinem Hause. Aber ich kenne dich. Rawhiti. Ich weiß, wie du denkst. Und ich weiß aus eigener Erfahrung, dass du in der Vergangenheit zu deinem eigenen Schutz bereits magische Bannkreise geschaffen hast. Also habe ich meiner kreativen Fantasie freien Lauf gelassen und mir irgendetwas zurecht gefaselt. Natürlich habe ich dezent unter den Teppich gekehrt, dass die Betreiberin dieses Lusthauses eine eiskalte und überaus mächtige Hexe ist. Sonst wäre Dolan niemals hineingegangen. Und ich hätte nicht die Ruhe gehabt, um die Kapitänskajüte auf der Baja in Ruhe nach nützlichen Informationen und Schriftstücken zu durchsuchen.

      „Iskander. Sei so gut und reich mir noch ein Stück Pergament.“

      Dolans schleimig-schmierige Stimme trieft durch die Kapitänskajüte wie flüssiger Durchfall. Er reißt mich aus meinen Gedanken. Zurück ins Hier und Jetzt.

      Mit sorgfältig gekämmtem, rußschwarzem Haarschopf und gerunzelter Stirn sitzt er am Schreibtisch. Was auch immer er dort niederschreibt ist zweifelsohne in fadenscheinige Freundlichkeiten und unterschwellige Drohungen gehüllt. Wie die Botschaft, die er diesem Mädchen mitgab. Und die dich entweder köstlich amüsiert oder sehr wütend gemacht haben muss.

      Yara.

      So lautet ihr Name. Mit blankem Gesichtsausdruck, der nichts über meine Abneigung Dolan gegenüber verrät, stehe ich auf und gehe zum Bücherregal, wo die unbeschriebenen Pergamentblätter in einer Schublade aufbewahrt werden. Dabei sehe ich unauffällig zu Yara hinüber. Mit herabgesackten Schultern und besorgter Miene sitzt sie auf dem exorbitant teuren Sofa aus edelstem Mahagoniholz und Goldleder und wartet geduldig darauf, gehört zu werden. Ich weiß nicht, wie lange sie schon dasitzt. Mehrere Stunden bestimmt. Ohne ein Wort zu sagen oder sich danach zu erkundigen, wann Dolan ihr Gehör schenken wird. Er ignoriert ihre Anwesenheit jedenfalls, als sei sie gar nicht da. Absichtlich, wie ich weiß. Weil er spürt, dass die Botschaft, die sie übermitteln soll, keine gute ist. Und weil er weiß, dass der sich auftürmende Stapel Arbeit wieder bis zum nächsten Tag liegen bleiben wird, wenn er außer sich vor Wut ausrastet und keinen klaren Gedanken mehr fassen kann. So verhält es sich immer bei ihm. Ein brodelnder Vulkan, der alles um sich herum mit kochend heißer Magma übergießt und zerstört.

      Yara tut mir wirklich leid.

      Sie sieht aus wie ein kleines Häufchen Elend. Unschuldig. Mit wild gesprenkelten Sommersprossen auf der alabasterfarbenen Haut, blutrotem Haarschopf und klaren, blattgrünen Augen.

      Sie ist eine Hausbedienstete. Oder zumindest tut das Haus Arrántir so nach außen hin. In der Gesellschaft sorgt das garstige Wort 'Sklave' schließlich noch für etwas geheuchelte Empörung – zumindest im besten Fall. Im schlimmsten Fall führt es dazu, dass man dem geltenden Gesetz nach zuerst für eine Ewigkeit in einem dunklen, kaltfeuchten Kerkergewölbe mit Fäkalien und toten Ratten ausharren muss, um dann irgendwann am Galgen zu enden oder einmalige Bekanntschaft mit dem Fallbeil zu machen. Und das wollen die Arrántirs möglichst vermeiden.

      Aber Sklaven kosten kaum etwas. Etwas Brot und Wasser, sicher, und zwei, drei Fetzen Stoff am Leib, aber mehr auch wieder nicht. Eine grausame Abscheulichkeit. Unmenschlich. Unwürdig. Geboren aus niederträchtiger Gier nach Silber und mangelndem Mitgefühl. Die Familie Arrántir – insbesondere die Hausherrin Valeska – schmeißt zwar mit Silber bloß so um sich. Aber es heißt nicht umsonst, dass je üppiger der Silberbeutel eines Mannes gefüllt ist, desto ärmer und leerer ist auch sein Herz. Und gemäß diesem Maßstab ist die Familie Arrántir emotional betrachtet ein karges, lebloses Brachland aus Fels und staubigem Sand. Eine fleischgewordene Wüste.

      So ungern ich es tue, korrigiere ich mich. Yara ist eine Sklavin, keine simple Hausbedienstete. Genauer gesagt die Leibsklavin von Valeska. Was das bedeutet? Anscheinend sorgt unverschämter Wohlstand dafür, dass einem die mühsam beigebrachte Grundfähigkeit, sich eigenständig zu waschen, zu kleiden oder das Gesäß nach dem Stuhlgang abzuwischen, irgendwie abhanden kommt. Und deshalb bedarf es armer, verstoßener Waisenkinder ohne Zukunft oder Perspektive, die einem diese lästigen Aufgaben abnehmen. In Ketten gelegt. Ihrer Freiheit beraubt. Und niemanden kümmert es.

      Nicht einmal die Leibgarde.

      Sie erhält regelmäßig Sold. Pünktlich, in reichlicher Menge und auf direktem Wege in ihre hungrigen Lohnbeutel hinein. Also kneift man beide Augen zusammen und sieht nicht hin, wenn andere ausgebeutet werden. Abgesehen davon gebietet es die Hausordnung, dass Leibgarde und Hausbedienstete sich nicht über private Belange unterhalten dürfen. Also passiert nichts. Zwei Welten, die mit Scheuklappen wie zwei sich fremde Nachbarn koexistieren und bloß gelegentlich miteinander in Berührung kommen, wenn man sich zufällig auf dem Heimweg über den Weg läuft und sich wortkarg grüßt.

      Aber es spielt keine Rolle mehr.

      Dolan weilt bald nicht mehr unter uns. Dafür werde ich Sorge tragen. Närrisch wie er ist, ahnt er nicht, was ihm noch blüht, wenn ich diese lächerliche Scharade beende und den Schleier der Wahrheit lüfte. Sofern ich überhaupt so gnädig bin und ihm die Möglichkeit gebe, hinter meine trügerische Fassade zu blicken. Der Anblick seines entsetzten Gesichts wäre köstlich. Aber es ist wahrscheinlicher, dass er sich eines Tages wie üblich an die üppig gedeckte Tafel setzt. Gierig wie ein ausgehungertes Tier das saftige, fette Fleisch hinunterschlingt. Nach exquisitem Wein ruft, in den ich klammheimlich ein paar Tropfen eines zuckerig-süßen Giftgemisches hinein geträufelt habe. Nur um im Anschluss mausetot vom Stuhl zu kippen. Ohne jemals zu erfahren, warum.

      Aber noch ist seine Zeit nicht gekommen. Noch fehlt mir der letzte, unumstößliche Beweis, um meinen Auftrag zu erfüllen. Und dafür brauche ich Dolan lebend.

      „Bitte, mein Herr.“ Das Pergamentblatt fühlt sich unter meinen Fingerkuppen rau und kratzig an, als ich es Dolan reiche. Ich würde ihm am liebsten ins Gesicht spucken, aber ich lasse mir nichts anmerken und lächle ihn freundlich an. Er nimmt es entgegen und murmelt ein kaum hörbares „Danke“, ehe seine kalten, graphitgrauen Augen zu Yara blicken. Für eine Weile spricht er nicht. Sieht die Kleine bloß wortlos an und studiert mit abfällig herunter gezogenen Mundwinkeln ihre trostlose Gestalt.

      Yara.“

      Wie von einem Wüstenskorpion gestochen springt das Mädchen vom Sofa auf. Sämtliches Blut in ihrem kleinen, schmächtigen Leib muss ihr ins Gesicht geschossen sein, denn ihre blassen Wangen färben sich mit einem Schlag puterrot. Sie ist aufgeregt. Nervös. Vielleicht sogar in Panik, weil ein fleckiger Ausschlag sich wie ein Teppich über ihren Hals ausbreitet und ihre Pupillen sich merklich weiten. Es ist soweit. Dolan ist bereit, ihre Botschaft zu hören. Aber es wird kein gutes Ende nehmen.

      Das arme Mädchen tut mir so leid.

      „Ja, mein Herr?“, kommt es ihr atemlos über die Lippen, „wie kann ich Euch dienen?“

      Dolan legt Feder und Pergament beiseite und lehnt sich zurück in den Stuhl. Die Fingerkuppen aufeinander gepresst, starrt er Yara mit grimmiger Miene an. „Händige mir Madame Musous Antwortschreiben aus.“

      Yara schluckt. An ihrer Schläfe perlt ein salziger Schweißtropfen hinab. Ich kann sehen, wie es in ihrem Kopf rattert. Wie sie sich innerlich die richtigen Worte zurechtlegt und nicht ahnt, dass es bei schlechten Neuigkeiten einfach keine richtigen Worte gibt. Nicht bei Dolan. Nicht bei dieser Angelegenheit.

      „Mein Herr“, stottert Yara mit zittriger Stimme los. Ihre Augen huschen dabei unsicher über den Holzboden, als suchte sie dort nach der besten Formulierung. „Madame Musou gab mir leider keinen Brief mit. Sie lässt ihre Antwort mündlich übermitteln.“

      Dolan sagt nichts und macht eine ungeduldige Handbewegung, die ihr gebietet fortzufahren. „Lass hören, Kind.“

      „Die Madame las Eure Botschaft und nahm dann...“ Sie zögert. Schluckt wieder. Ihre Finger krallen sich im Saum ihrer beige-braunen, aufwendig gewickelten Robe fest, „...nahm dann eine Kerze und ließ das Pergament zu Asche zerbröseln. Anschließend teilte die Madame mir mit, dass sie Euren Vorschlag nicht in Erwägung ziehen werde. Sie ließ außerdem ausrichten, dass man Euch nicht – ich zitiere die Madame wörtlich – 'mit jener Freundlichkeit' behandeln werde wie an jenem Tage, solltet Ihr Euch dem Lusthaus wieder nähern.“

      Autsch.

      Welch eine Schmach. Welch unmissverständliche Zurückweisung. Die ultimative Aufbegehrung gegen Dolan aus dem Hause Arrántir, angesehener und einflussreicher Kaufmann des Handelsverbandes von Mediah. Bla, bla, bla. Es ist ein unverzeihlicher Affront gegen einen Mann, der sich wichtiger macht und fühlt, als er eigentlich ist. Und der eine derartige Bloßstellung nicht unbeantwortet lassen wird.

      Ich habe nichts anderes von dir erwartet, Rawhiti.

      Dolan aber schon.

      Er sieht nicht sehr begeistert aus. Es ist nicht die 'positive Antwort', die er gefordert oder erwartet hatte. Weil er nicht weiß, mit wem er sich da angelegt hat. Weil er nicht begreift, dass sein gekränkter Stolz, seine aufgeblasene Selbstverliebtheit und sein impulsives Temperament ihn blind gemacht haben. Dass es klüger gewesen wäre, diesen erniedrigenden, peinlichen Zwischenfall in der Möwe aus dem Gedächtnis zu brennen, statt blindlings einen Krieg anzuzetteln, den er nicht gewinnen kann.

      Er starrt Yara mit kalten, kleinen Augen an. Seine Lippen sind zu einem schmalen, feinen Strich zusammengepresst. Ich kann sehen, wie sein rechtes Augenlid unkontrolliert zuckt und wie sich seine Kaumuskeln bewegen. Seine Zähne knirschen. Mahlen aufeinander. Zerquetschen die blanke Wut, die zweifelsohne in diesem Moment in ihm aufkeimt.

      Ich wünschte, ich könnte Yara sagen, dass sie die Füße in die Hand nehmen und weglaufen soll. Dass das, was ihr gleich blüht, mir schrecklich leid tut. Dass ich nichts dagegen unternehmen kann, weil mein Auftrag wichtiger ist als alles andere. Sogar wichtiger als ihr unschuldiges Leben. Stattdessen bleibe ich vor dem Schreibtisch stehen und sage nichts. Mein Gesicht ist eine blanke, emotionslose Maske. Mit innerem Grauen, der mir die Gedärme umrührt wie zähe, dickflüssige Suppe, beobachte ich, wie Dolan sich bedrohlich aufrichtet, ohne etwas zu sagen. Wie er mit stolzer, aufrechter Haltung zu ihr geht. Dass er dabei so still ist, ist kein gutes Zeichen. Wie die Ruhe vor dem Sturm, der zerstörerisch über alles hinwegfegt und alles in seinem Wege einfach niederreißt.

      Das Mädchen steht wie angewurzelt da. Mit gerunzelter Stirn und großen Augen sieht sie zu Dolan und weiß nicht, wie ihr geschieht, als es geschieht. Ihr bleibt nicht einmal die Zeit aufzuschreien. Oder um Gnade zu betteln.

      Die Faust kommt wie aus dem Nichts.

      Ich zucke zusammen, als ihr Kopf von der Wucht des Schlages umherwirbelt und ihr schmächtiger, kleiner Leib zurückfliegt. Sie schlägt mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden auf und bleibt regungslos liegen. Dickflüssiges Blut fließt ihr über die Lippen und ich kann erkennen, dass der Schlag so heftig war, dass er ihre Nase gebrochen hat.

      Dieser dreckige Mistkerl. Das wird er büßen.

      „Du nutzloses, undankbares Gossenkind“, knurrt Dolan mit gefletschten Zähnen. Mit geballten Fäusten pirscht er im Kreis um sie herum wie ein hungriges Raubtier, „ich befreie dich aus diesem dreckigen Waisenhaus. Ernähre dich, kleide dich und stelle dir ein trockenes und warmes Dach über den Kopf. Im Gegenzug trage ich dir hin und wieder eine simple Aufgabe auf. Und was machst du?“ Er bäumt sich über ihr auf und spuckt ihr ins Gesicht. „Du vermasselst es und lässt mich dastehen wie ein dummer Bauer! Was fällt dir eigentlich ein?!“

      Er hebt den Fuß zum Tritt und ich kann nicht länger hinsehen.

      Ich drehe mich um. Zurück zum Fensterglas, in dem ich das unmenschliche Grauen nicht sehen kann. Starre auf den blassen Elf mit seinen giftgelben Augen und dem ordentlich zurückgekämmten, kreideweißen Haarschopf, der sich im Fenster widerspiegelt. Iskander. Ich frage mich, wie es dir geht. Dort unten, am Grund des Meeres bei Altinova, wo du bestimmt vor dich hinfaulst. Dein magerer Leib ist jetzt nicht mehr als Futter für die Fische. Nachdem der süße, giftige Kuss meiner sinnlichen Lippen dich ins Jenseits beförderte und ich deinen noch warmen, mit Steinen beschwerten Leichnam über die Klippe warf. Du bist ich. Und ich bin du. Mit puderig-weißer Schminke, gebleichtem Haar, goldgelben Kontaktlinsen und abgebundener Brust, die unter weiter, luftiger Kleidung versteckt ist und mir wunde Stellen auf der Haut beschwert.

      Ich betrachte Iskanders... nein, mein aschfahles Gesicht im Fensterglas und blende aus, was hinter mir geschieht. Flüchte mich in Gedanken an dich, Farah. Denke an den einzigen Grund, weshalb ich überhaupt hier bin. In dieser fremden Haut. Auf diesem potthässlichen Schiff. In dieser schäbigen Hafenstadt. Bei diesem grausamen Monster, das ein hilfloses, wehrloses Mädchen blutig prügelt, weil er sich gekränkt fühlt. Weil er zu unfähig oder zu ignorant ist, um zu erkennen, dass Yara nichts mit dieser Sache zu tun hat.

      Ich wünschte, ich könnte ihr helfen. Aber ich kann nichts für die Kleine tun. So gern ich es auch wollte. Sie ist irrelevant. Ihr Schicksal spielt keine Rolle für die Erreichung meines Ziels. Vielmehr würde es mich auf meinem Weg dorthin wieder zurückwerfen. Meine akribisch aufrechterhaltene Tarnung auffliegen lassen. Und das kann ich nicht riskieren. Um gar keinen Preis.

      Ob du mir das verzeihen würdest, Farah? Dass ich es zuließ, dass man einem anderen unschuldigen Mädchen so etwas antut? Auch wenn ich es tat, um dich zu finden? Um dich zu befreien? Uns beide wieder zusammen zu bringen?

      Ich weiß es nicht. Womöglich würdest du mich dafür verabscheuen. Mir Vorwürfe machen. Mich verstoßen. Und ich könnte es dir nicht übel nehmen. Wer will schon so ein grausames, kaltes Weib als Mutter haben?

      "Gereon!“, schreit Dolan schließlich wutentbrannt und ich kann hinter mir hören, wie Yara leise auf dem Fußboden wimmert, „Gereon! Schaff deine armselige Gestalt hier rein! Sofort!“

      „Es... es tut mir leid, mein... mein Herr... ich wollte nicht-“, krächzt das Mädchen mit schwacher Stimme, aber Dolan fällt ihr sofort ins Wort: „Halt dein Maul. Ich will deine Ausflüchte nicht hören.“ Eine kurze Pause folgt. „Gereon! Wo bleibst du Taugenichts?!“

      Dumpfe Schritte dringen schließlich aus dem Flur in die Kapitänskajüte. Wenige Augenblicke später öffnet sich die Tür mit einem hölzernen Quietschen und ein angestrengtes Hecheln füllt die Luft. Ich drehe meinen Kopf zur Seite und werfe einen flüchtigen Blick über die Schulter. Gereon, ein junger Bursche mit blond-baumelndem Zopf und eisblauen Augen, steht steif wie ein Stock im Türrahmen und ruft überschwänglich: „Mein Herr!“

      Er sieht gar nicht, dass vor seinen frisch polierten Lederstiefeln ein kleiner, schmächtiger Leib auf dem Fußboden kauert. Dolan sieht Gereon abfällig an und macht eine Handbewegung, als wollte er ihn fortscheuchen wie eine lästige Fliege. „Schaff mir das Gör aus den Augen. Los."

      Gereon runzelt ihm ersten Moment bloß irritiert die Stirn. Dann erst bemerkt er, dass Yara dort mitten in der Kajüte liegt und sich krampfhaft die Magengrube hält. Sein erschütterter Gesichtsausdruck spricht Bände.

      Er sieht hilflos aus, wie er so dasteht und nichts tut. Wie er auf Yara hinab sieht. Wortlos und entsetzt. Es dauert eine Weile, bis er sich wieder einigermaßen gefangen hat und sich unbeholfen zu dem Mädchen bückt, um ihren Arm zu greifen und sie zum Aufstehen zu bewegen. Aber Yara bleibt wie ein schlaffer Sack liegen und weint nur leise vor sich hin.

      „K-Komm, steh' auf“, sagt Gereon leise. Allein an seiner Stimme kann ich erkennen, dass er Mitleid mit dem Mädchen hat, „zurück mit dir unter Deck.“

      Yara aber reagiert nicht, also wickelt er seine sehnigen Arme irgendwie um ihren Leib und zieht sie zurück auf die Füße. Ihr schmerzerfüllter Schrei spießt sich mir bis ins Knochenmark und lässt mich wieder wegsehen.

      „Gereon.“ Ich höre Dolans mahnende, fast schon drohende Stimme. „Womöglich hast du nicht recht verstanden.“

      „Mein Herr?“

      „Schaff sie weg. Für immer. Egal wie und egal wo. Hauptsache, es sieht aus wie ein tragischer Unfall. Und sieh zu, dass dich niemand dabei beobachtet. Ich will nicht, dass irgendwer unangenehme Fragen stellt und ich dann leider zugeben muss, dass das Mädchen unnatürliche Gelüste in dir geweckt hat und du ihr etwas Schlimmes angetan hast.“

      Es folgt ein langer Augenblick der Stille. Eine Stille, die bedeutungsschwer im Raum umher wabert wie die warme, stickige Luft, die unsere Lungen füllt. Gereon ist jung und naiv. Er dient Dolan noch nicht besonders lange und ich bezweifle, dass ihm bewusst ist, was mit unliebsamen Sklaven in der Vergangenheit geschehen ist. Dass alle irgendwann spurlos verschwanden. Nur um Tage später tot im Flussbett oder einer abgeschiedenen Gasse aufgefunden zu werden. Dass es immer irgendwen aus dem Hause Arrántir gab, der sich dafür die Hände schmutzig machen musste.

      Und dieser jemand heißt dieses Mal Gereon.

      „J-Jawohl, mein Herr. Ich kümmere mich darum.“

      Ich höre, wie schlappe, wehrlose Füße über den Holzboden geschleift werden. Wie eine zarte Mädchenstimme leise wimmert und kläglich um Vergebung fleht. Bis die Kajütentür mit einem lauten Schlag zufällt und die Stille wieder zurückkehrt.

      Yaras Schicksal ist besiegelt. Der Schmetterling, der mit rußschwarzer Tinte auf ihrem Schulterblatt tätowiert ist, ist hilflos im Netz der Spinne aus Eis gefangen. Er zappelt wild mit seinen dünnen Beinchen. Flattert ein letztes Mal mit seinen zerbrechlichen Flügeln. Es ist der letzte, klägliche Versuch, sich aus seinem klebrigen Käfig zu befreien. Es hilft nichts. Die hungrige Spinne krabbelt bereits auf ihn zu und wickelt ihn gleich in einen tödlichen Kokon aus Frost und Eis.

      „Iskander. Setz dich und nimm die Feder. Ich kann mit dieser aufgeschürften Hand nicht mehr schreiben.“

      Ich starre mein blass geschminktes Gesicht an und forme es zu einer blanken, gefühllosen Maske.

      „Aber natürlich, mein Herr. Ich bin Euch stets zu Diensten.“



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      Anmerkung:

      Für alle, die Dornen einer Wüstenrose oder den Steckbrief nicht kennen (oder sich nicht mehr an die Inhalte erinnern): Es handelt sich bei Iskander um meinen Charakter Rhaida.
      Noot noot!