Geschichten von Aegaria

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    • Geschichten von Aegaria

      Friedhofsbesuch


      Aegaria betrat das Grundstück, das der Familie Ceos gehört und somit gewissermaßen auch ihr Zuhause war. Es war bereits dunkel geworden und die Wache ließ sie direkt eintreten. Seit fünf Jahren lebte sie hier und nach dieser Zeit kannte man sich einfach. Sie kannte jedes Familienmitglied, das in der Stadt lebte, jeden Bediensteten und umgekehrt war es ebenso. Das achtzehnjährige Mädchen folgte dem gepflasterten Weg durch die kleine, angelegte Wiese zum Haupthaus, da sie mit dem Schatzmeister sprechen musste. Sie brauchte siebzig Silbermünzen um Luzius, seines Zeichens Ritter, für einen Begleitschutz zu bezahlen.

      Jetzt, wo Aegaria darüber nachdachte, kam es ihr aber eigenartig vor, dass er dafür Silber verlangte. Immerhin nahm sie ihn ja mit, weil er meinte, dass sie nicht alleine nachts auf den Friedhof gehen sollte. Sie wäre auch alleine gegangen, aber sie wollte den großen Mann nicht beunruhigen. Aber am Ende war ihr das nicht so wichtig. Siebzig Silbermünzen für eine Stunde waren nicht so viel. Sie würde um hundertfünfzig Münzen bitten, damit sie Zeit genug hatten.

      Als die junge Frau durch den dunklen Flur und in das Zimmer des Schatzmeisters trat, stellte sie fest, dass sie nicht der einzige Gast war. Vor dem Tisch saß Graf Phineas Gaius Ceos persönlich und war in ein Gespräch vertieft. Aegaria blieb zuerst wie angewurzelt in der Tür stehen, als beide Männer ihren Blick auf sie richteten.

      „Guten Abend, Euer Erlaucht“, grüßte sie zuerst den Grafen, verbeugte sich und sah dann zu dem Mann hinter dem Tisch. „Guten Abend, Schatzmeister.“
      Die beiden quittierten den Gruß mit einem Kopfnicken und der Graf beendete seinen Satz, bei dem es um eine Lieferung von Kunstobjekten ging. Aegaria wartete still ab, ein Blick auf die Wanduhr verriet ihr, dass es bereits kurz vor zehn Uhr abends war.

      „Was gibt es?“, wollte der Graf schließlich von ihr wissen. Sie näherte sich dem Tisch und sah ihrem bereits über sechzig Jahre alten, vom Leben gezeichneten, Herren an.
      „Ich wollte den Schatzmeister um hundertfünfzig Silbermünzen bitten, Euer Erlaucht“, erklärte Aegaria. Der Graf machte nur eine wirsche Geste zum Schatzmeister, der daraufhin die Silberkassette öffnete und die entsprechende Anzahl Münzen herauszählte. Er gab sie direkt in einen Beutel. Währenddessen führten die beiden Männer ihr Gespräch fort. Aegaria hörte zwar zu, aber von Kunst verstand sie nichts. Bilder waren für sie einfach nur Bilder und Skulpturen waren Skulpturen. Es waren tote Objekte ohne Seele, doch sie respektierte die Wertschätzung anderer Personen dafür. Schließlich übergab der Schatzmeister ihr das Silber in dem Beutel.

      „Vielen Dank und einen schönen Abend, Euer Erlaucht, Schatzmeister“, verabschiedete sich die junge Frau und ging zur Tür, um die beiden nicht länger zu stören. Doch kurz bevor sie hindurchtrat, blieb sie stehen.
      „Seherin?“, fragte der Graf einen Moment später und sie drehte sich nochmals um. „Ja?“
      „Wofür ist dieses Silber gedacht?“
      „Für einen Ritter, der mich für zwei Stunden begleiten wird, damit mich…“, sie runzelte kurz die Stirn, als sie an die Worte, die Luzius aussprach, erinnern musste, „…die Penner in Frieden lassen, Euer Erlaucht.“
      Diese Aussage führte zu zwei hochgezogenen Augenbrauenpaaren. Aegaria neigte dazu nur leicht den Kopf.
      „Und wohin begleiten?“, wollte der Graf wissen.
      „Zum Friedhof, um die Geister zu besuchen.“
      „Wie heißt dieser Ritter?“
      „Ritter Crow.“

      Der Graf atmete tief ein und der Schatzmeister verzog das Gesicht, ob ihres Ziels. Er verhielt sich oft so, wenn sie von Dingen sprach, die er nicht verstand, aber das kümmerte Aegaria nicht. Er sprach ja auch oft von Dingen, die sie nicht verstand.
      „Da will sie wohl nur wieder jemand in sein Gemach locken, was?“, meinte er zu dem Grafen., doch dieser ging nicht darauf ein, sondern sprach zu ihr: „Warte vor der Tür.“
      Sie kam der Aufforderung nach und stellte sich vor die Tür zum Zimmer des Schatzmeisters und betrachtete den leicht flackernden Lichtschein, der aus dem Zimmer drang und den Boden im Flur beleuchtete. Es störte sie, dass der Lichtschein nicht parallel zu den Spalten der polierten Steinplatten verlief, sondern die saubere Geometrie brach. Sie vernahm weiterhin die Stimmen aus dem Inneren, doch folgte dem Gespräch nicht. Dafür war der Lichtschein am Boden zu ablenkend.

      „Mädchen!“ Die Stimme erschallte direkt neben ihr und sie zuckte leicht zusammen und blickte auf. Der Schatzmeister hielt ihr ein Papier hin. „Übergib das Ritter Crow, es wird dafür sorgen, dass er dir nichts antut.“
      „Das wird er nicht, sonst hätte ich davon geträumt“, entgegnete Aegaria und nahm das Papier entgegen. Es standen einige Worte darauf geschrieben und sie waren vom Grafen unterzeichnet.
      „Wie auch immer“, murmelte der Schatzmeister. Er ging zurück in sein Zimmer und sprach wieder mit dem Grafen. „In meinen Augen ist es Geldverschwendung, der Verrückten das Silber zu…“
      Den Rest hörte Aegaria gar nicht mehr, da sie sich beeilte, wieder aus dem Haus und zum südlichen Wachtor zu kommen, wo sie sich um zehn Uhr mit Luzius treffen sollte. Sie war schon spät dran. Das Dokument faltete sie zusammen und steckte es in ihre linke Armschiene. Den Beutel behielt sie in der Hand.

      Leichtfüßig bewegte sich die junge Frau durch die Straßen Calpheons. Sie freute sich schon darauf, am Friedhof vielleicht endlich einmal Geister zu sehen und zudem war es noch ein guter Tag, denn sie musste heute noch kein einziges Mal in ihre Welt gehen. Sie mochte ihre Welt, sie mochte den warmen Sand unter ihren Füßen, die Stille, das Blau des Himmels, die warmen Sonnenstrahlen, aber sie konnte sie mit niemanden teilen, denn es war eben nur ihre Welt. Und sie kam nur hinein, wenn es in der richtigen Welt, wie andere sie nannten, etwas Unangenehmes passierte. Früher, bevor sie die Medizin bekam, war das anders, früher konnte sie immer hinein, aber dafür nur schwer wieder zurück. Das hatte Aegaria selbst nicht gestört, aber andere Personen machten sich Sorgen und darum nahm sie weiterhin die Medizin. Gedankenverloren hatte sie schließlich die Wachstube am südlichen Tor erreicht und klopfte an.

      Drei Stunden später lag Aegaria in ihrem Bett. Tatsächlich war sie mit Luzius am Friedhof gewesen und anschließend hatte er sie noch auf ein Getränk eingeladen. Es war ein schöner Abend mit interessanten Gesprächen. Und tatsächlich hatte sie auf dem Friedhof einen Geist gesehen. Es war nur ein Lichtpunkt, doch sie hatte gespürt, wie er sie angesehen hatte. Leider konnte sie mit ihm nicht reden, aber sie hatte ihm zugewunken. Davon würde sie Nijami erzählen!

      Nijami war die Straßenmusikantin, die sie überhaupt erst auf die Idee gebracht hatte, am Friedhof nach Geistern zu suchen, nachdem sie von Geistern gesungen hatte. Nijami war klug, das hatte Aegaria bereits festgestellt. Sie wusste so vieles, über das sie singen konnte und sie hatte auch gewusst, dass am Friedhof Geister zu finden waren. Nur komischerweise fürchtete die Bardin Friedhöfe, das war sehr eigenartig.

      Weniger erfreulich war jedoch Mathilda. Die Frau war eine gutherzige Ehefrau und Mutter gewesen, doch eine Krankheit hatte sie dahingerafft und so lag sie nun begraben am Friedhof. Sie hatte Aegaria darum gebeten, mit ihrem Mann zu sprechen, der seit ihrem Tod zum Alkoholiker geworden war. Er sollte mit dem Trinken aufhören, da die Kinder ihn sonst verlassen würden. Aegaria hatte eingewilligt, das zu tun, doch dann kam Mathilda noch zwei weitere Male zu ihr und erinnerte sie daran. Das war lästig, vor allem, da sie sich gerade mit Luzius unterhalten hatte. Aber sie konnte auch verstehen, dass es Mathilda wichtig war und darum würde sie sich gleich in der Früh kümmern. Zumindest, wenn sie davon träumt, wo sie den trinkenden Mann finden könnte.
      "Japan ist ein wenig so wie Österreich: da hast du erstens das Meer..." 8o
    • Unruhige Nacht


      Das fahle Mondlicht erhellte, durch die Vorhänge hindurch, das Zimmer, in dem Aegaria schlief. Oder zumindest zu schlafen versuchte, denn das Mädchen lag wach, die Augen geöffnet und auf die Holzdecke über ihr gerichtet. Ihre Gedanken kreisten um die sich überschlagenden Ereignisse: Leyla, nein, Lady Leyla Yrina Ceos, wie ihre korrekte Anrede lautete, war in Calpheon eingetroffen und eine Befragung durch die Stadtwache war ausständig.

      Die Ankunft der kleinen Leyla war erfreulich, denn Aegaria betrachtete sie als eine Freundin, auch wenn der Kontakt jäh abriss, als sie vor etwas über fünf Jahren nach Calpheon kam. Leyla und ihr Bruder akzeptierten sie so, wie sie war, obwohl ihr Verhalten zu dieser Zeit noch sonderbarer war als es jetzt ist. Oft fiel sie in eine Starre oder sprach mit Personen, die andere nicht sehen konnten. Auf die meisten Leute wirkte sie abschreckend, aber die kindliche Neugierde war bei den Geschwistern größer als jedwede Abneigung und so entstand die Freundschaft. Aegaria spielte gerne mit den beiden, zudem hatten sie so viel Spielzeug: Holzpferdmodelle mit Kutschen, größere Schaukelpferde, Plüschtiere, Kreisel und vieles mehr – alles was man sich als Kind nur wünschen konnte.

      Sie wusste damals schon, dass sie sich eines Tages wiedersehen würden, doch nicht wann es sein würde. Umso erfreulicher war es, als die Kunde durch das Haus Ceos ging, dass Leyla und Erijon in Calpheon eingetroffen waren. Weniger erfreulich hingegen, dass das Mädchen bei Gräfin Tsatsuka Ceos unterkam. Die Gräfin war kein Freund von Kindern. Aegaria konnte nicht sicher sagen, ob sie Kinder generell nicht mochte oder ihnen einfach nur keine Beachtung schenkte, aber sie spürte die Antipathie beinahe von Tag zu Tag, denn in den Augen der Gräfin war sie selbst wohl noch ein Kind. Für Leylas Wohl hoffte sie, dass die Gräfin mit ihrer Nichte einen besseren Umgang pflegen würde.

      Interessant war, dass Leyla ihr berichtete, dass die Familie wohl auf der Suche nach einem geeigneten Ehepartner für sie war. Zwar hatte die Kleine es nicht so direkt ausgedrückt, aber Aegaria wusste mittlerweile genug über die Familie, um das aus diesen Worten herauszuhören. Eigenartigerweise freute sich Leyla nicht wirklich darüber. Aber gut, sie war erst dreizehn Jahre alt, also würden wohl noch zwei, drei oder gar vier Jahre ins Land ziehen, bevor es soweit sein würde.
      Ein Bisschen beneidete sie das Mädchen schon, denn eine Hochzeit war einfach etwas Besonderes. Vor allem für eine junge Lady. Ein prunkvolles Fest mit herausragenden Speisen, Getränken, Musikern, noblen Gästen und man stand selbst im Mittelpunkt von all dem. Leider würde Aegaria selbst so etwas niemals erleben. Höchstens als Gast am Rande.

      Die junge Frau schob die nächtlichen Gedanken dazu beiseite und widmete sich dem zweiten Thema: der Befragung. Wahrscheinlich hatte die Gräfin Tsatsuka mit Absicht dafür gesorgt, dass die Stadtwache erfuhr, dass sie Magie nutze. Magie nutzte. Das klang so falsch, wie es war. Sie nutze die Magie doch nicht, wie viele vergebene Versuche und Experimente zeigten. Sie hörte lediglich zu und sah hin. Mit den Ohren, mit den Augen und mit ihrem Körper.
      Mit einer Hand berührte sie die Symbole auf ihrem Bauch. Sie strich mit den Fingerspitzen entlang der Konturen über die nackte Haut und ein Kribbeln durchfuhr ihren Körper. Sie wusste selbst nicht, warum diese Stellen so empfindlich auf die feinen Nuancen der Welt und des Lebens reagierten. Doch ihre Haut nahm alle Eindrücke auf, die wie Fäden von Objekt zu Objekt, von Person zu Person, von Zeit zu Zeit gespannt waren. Als ob viele kleine Augen diese Fäden beobachten und verfolgen konnten und die Zusammenhänge identifizierten. Nicht immer waren ihre Beobachtungen richtig, manches verschwand im Dunst der Alltäglichkeit, manches lag hinter einem künstlichen Schleicher und manches war so verzerrt, dass sie gar etwas Anderes zu sehen glaubte.

      Ein weiteres Mal umkreiste sie die Hautstelle. Mittlerweile wusste sie, welche Stellen ihres Körpers diese Fähigkeit besaßen und hin und wieder kamen weitere hinzu. Sie ließ sich die Haut durch Tätowierungen färben, um niemals zu vergessen, wo sich ihre übersinnliche Wahrnehmung befand. Es betrübte sie, dass andere das nicht verstanden und sie immer wieder und wieder aufforderten, ihren Körper mehr zu bedecken. Es fühlte sich an, als würde sie eine Schlafmaske tragen müssen oder jemand anders ihre Ohren zuhalten. Doch wie sollte sie das erklären?
      Vielleicht gab es doch noch einen Lichtblick. Heute hatte sie ein junges Mädchen kennengelernt. Sie war blind, aber nicht von Geburt an und hatte offensichtlich gelernt, damit umzugehen. Davor hatte Aegaria großen Respekt und sie hoffte, eines Tages ihre Gedanken und Sorgen mit Aiako, so ihr Name, teilen zu können. Vielleicht würde sie bei diesem Mädchen auf Verständnis stoßen oder gar von ihr lernen, mit verringerter Wahrnehmung umgehen zu können.

      Welche Fragen würde man ihr bei der Befragung stellen? Ob sie Magie einsetzte? Ob sie anderen Personen Schmerzen hinzufügte? Ob sie Dinge, die anderen gehörten, kaputt machte? Ob sie andere Wesen verfluchte? Sie wusste es nicht, hoffte aber, dass sie einen guten Tag haben würde, damit sie zufriedenstellende Antworten geben kann, denn sie hatte Angst, dass sie während der Befragung in ihre eigene Welt abdriften und so alles nur noch schlimmer machen würde. Und sollte sie überhaupt die Wahrheit sagen oder lieber das, was die anderen gerne hörten? Dass sie lediglich ein verrücktes und zurückgebliebenes Mädchen war. Eines, das niemals vollkommen über sich selbst bestimmen darf, das immer von jemanden abhängig sein wird? Ein Mädchen, dass niemals wirklich frei sein wird.

      Das grauschattierte Bild der Holzdecke verschwamm, als sich Tränen bildeten. Schnell wischte Aegaria diese mit der Hand weg. Sie wollte nicht weinen und nicht trauern, auch wenn sie sich in diesem Augenblick wünschte, mit jemanden wie Leyla tauschen zu können. Nein, sie wollte trotzdem fröhlich sein. Ihr mangelte es nur an wenig und es gab so viele Seelen, denen es noch viel schlechter ging. Sie schloss die Augen, atmete langsam durch und schlief endlich ein. Doch diese Nacht brachte ihr der Schlaf kaum Erholung…
      "Japan ist ein wenig so wie Österreich: da hast du erstens das Meer..." 8o
    • Nachwirkungen


      Den ganzen Weg von der Wachstube bis zum Anwesen der Familie Ceos war Aegaria schweigsam gewesen. Sie ging neben ihrem Aufpasser her und dachte über die gewechselten Worte nach. Das Ergebnis der Befragung war gleichzeitig besser und schlechter als sie es erwartet hatte. Besser, weil sie sich weiterhin frei bewegen durfte und man ihr nicht irgendeinen Magievorfall anhängen wollte, wie zuerst vermutet. Schlechter, weil sie in der Wahl der Kleidung in Zukunft weiterhin eingeschränkt sein würde und vor allem, weil sie ihrem Herrn eine unangenehme Frage stellen musste. Letzteres bereitete ihr wirklich Sorgen.
      Die junge Seherin zitterte als die Anspannung nachließ und das Beruhigungsmittel, das sie verabreicht bekommen hatte, in der Wirkung abebbte. Sie wusste von dem Mittel, denn sie verstand, dass es wichtig war, bei der Befragung klar zu bleiben und keinen Anfall zu bekommen, behielt dieses Wissen jedoch für sich.

      Unterwegs äußerte Aegaria den Wunsch, den Grafen zu sprechen und so trat sie schlussendlich in das geräumige Schreibzimmer des Familienoberhaupts. Der Raum war opulent eingerichtet und der Tisch, hinter dem ihr Herr saß, war größer als ihr Bett. Anfangs hatte der Raum sie eingeschüchtert, doch nach mehr als fünf Jahren hatte sie sich daran gewöhnt.

      „Du bist zurück“, stellte Graf Phineas fest und sah Aegaria erwartungsvoll an. „Berichte!“
      „Ja, Euer Erlaucht“, entgegnete sie und erzählte von der Befragung und der kurzen Untersuchung Kristanias, welche sie einfach nur als die Weißhäutige bezeichnete und gab an, welche Informationen sie weitergegeben hatte. Währenddessen erhob sich der Graf und ging um den Tisch herum, um sich auf Aegarias Seite an die Kante zu lehnen. Er verschränkte die Arme und hörte jedem einzelnen Wort interessiert zu.
      „Eine Frage blieb noch offen, Euer Erlaucht“, meinte sie nach dem Bericht. Er hob nur leicht die Augenbrauen und deutete, dass sie fortfahren sollte.
      Sie zögerte einige Momente, neigte schließlich den Kopf und fragte: „Warum darf ich mich nicht binden?“
      Er schnaubte verächtlich. „Das willst du kleines Ding wirklich wissen?“
      „Die Frau Hauptmann will das wissen. Warum ich mich nicht binden darf und warum Ihr nicht wollt, dass ich Nachkommen zeuge, damit meine Fähigkeit der Familie erhalten bleibt.“
      „Oh, will sie einen Abkömmling von dir adoptieren?“, lachte er. „Die gute Dame ist wohl humorvoller als ich dachte. Hat sie schon geplant, wer der bemitleidenswerte Vater sein soll?“
      Weiteres Lachen folgte, doch als Aegaria ihn weiterhin ernst ansah, ebbte es ab. Er griff nach hinten, um einen Schluck Wein aus dem Kelch zu nehmen.
      „Nun gut, ich werde ihr die Frage beantworten“, sagte der Graf und stellte den Wein wieder zurück auf den Tisch. Die junge Frau verlagerte ihr Gewicht von einem Bein auf das andere und ihre Mimik brachte Enttäuschung zum Ausdruck.
      „Ich würde es auch gerne wissen, Euer Erlaucht“, meinte sie kleinlaut, doch er schüttelte nur den Kopf. „Nein, das geht dich nicht das Geringste an.“
      Aegaria atmete tief ein und sammelte ihren Mut. „Bitte!“
      Phineas löste sich vom Tisch und wendete sich der kleineren Frau zu. Er hob den Zeigefinger und auf seiner Stirn bildete sich die Falte, die er immer bekam, wenn er zornig wurde. „Nein!“
      Aegaria nickte demütig, doch innerlich war sie nicht bereit, jetzt einfach aufzugeben. Immerhin war es eine Frage, die sie selbst beschäftigte, wenn auch aus anderen Gründen.
      „Die Frau Hauptmann wies mich zudem an, dass ich angemessene Kleidung auf den Straßen tragen muss und wenn ich darum meine Fähigkeiten nicht mehr richtig nutzen kann und Ihr mich dann nutzlos findet, dass sie mich aufnehmen würde.“

      Die Rückhand des Grafs traf ihre Wange so schnell, dass Aegaria nicht einmal einen Hauch einer Chance hatte, sich darauf vorzubereiten. Seine Finger hinterließen rote Striemen und sein Ring hatte ihre zarte Haut aufgeritzt. Verdutzt und überwältigt starrte sie den Mann an. Dass sie die Ohrfeige nicht kommen gesehen hatte, setzte ihr mehr zu, als die Schmerzen im Gesicht. Phineas hatte sich gefährlich vor ihr aufgebaut und die Hände in die Hüften gestemmt.
      „Willst du mich erpressen?“, fragte er mit drohend ruhiger Stimme. „Glaubst du wirklich, dass ich dir irgendetwas sage, nur, weil du vielleicht wo anders unterkommen kannst?“
      Noch immer überwältigt, schüttelte sie den Kopf und spürte, wie sich eine Träne den Weg über ihre heiße Wange bahnte.
      „Ich höre nichts!“, knurrte er.
      „Nein“, meinte sie kleinlaut, auch wenn es nicht korrekt war. „Ich wollte nur sagen, dass das angeboten wurde.“
      „Sonst noch etwas?“
      „Nein, mein Herr.“
      „Dann raus, jetzt.“ Der Graf deutete zur Tür und Aegaria flüchtete nach einer Verbeugung aus der Schreibstube. Sie wischte sich die Tränen und etwas Blut aus dem Gesicht und eilte in ihr Zimmer.

      Phineas hingegen lächelte kurz, als sie weg war. Er ließ sich wieder in seinem Stuhl nieder und legte den Kopf in den Nacken. Es war ein interessantes Angebot. Konnte er die kleine Seherin so bei Guerra unterbringen? Sie könnte sich umhören und umsehen und vielleicht Dinge in Erfahrung bringen, die bei Verhandlungen mit der Familie von Nutzen sein konnten. Es wäre ein gefährliches Spiel.
      Doch der Graf schob die Gedanken zur Seite, denn er würde später darüber nachsinnen, ob er bereit war, das Risiko einzugehen. Zuerst musste er eine Antwort für die alte Guerra aufsetzen und ihr erklären, warum er nicht wollte, dass die Kleine ihre Jungfräulichkeit verliert.
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    • Entdeckungen


      Es war schon spät geworden, als Aegaria Leyla ins Bett gebracht hatte. Sie fühlte sich nie sonderlich wohl, wenn sie die Wohnung von Leylas Tante Tsatsuka auf dem Anwesen der Familie betrat, doch sie tat es gerne für ihre Freundin, die derzeit dort wohnte. Zudem fühlte sie sich für Leyla verantwortlich, aber das behielt sie für sich. Die Seherin trat wieder ins Freie und wollte in ihr Zimmer gehen, doch aus einem Impuls heraus ging sie zu Xellesas Wohnung. Xellesa war Leylas verschollene Mutter und die Frau, die dafür sorgte, dass Aegaria die Medizin bekam, die ihr half. Vor über fünf Jahren kam sie mit ihr von Heidel nach Calpheon.

      Die Wohnung war nicht versperrt, da die Wachen sowieso das Gelände schützen. Leise öffnete Aegaria die Holztür und huschte ins Innere. Genauso vorsichtig schloss sie die Tür wieder. Es dauerte einige Momente, bis ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten und so begann sie nur langsam Umrisse zu erkennen. Die Wohnung war eingerichtet und dekoriert, als wäre die Frau erst seit wenigen Tagen fort. Doch eine Staubschicht überzog alles und zeugte davon, dass schon lange niemand hier wohnte. Aegaria schlich durch die Wohnung, ohne recht ein Ziel zu haben. Die Zimmer wirkten fremd aber doch irgendwie vertraut.

      Im Schlafzimmer strich sie mit der flachen Hand über das Bett und wirbelte ein kleines Staubwölckchen auf. Sie schloss die Augen und stellte sich vor, dass Xellesa in dem Bett lag und schlief. Nach einem kurzen Moment der Überlegung begann sie sich bis auf die Unterwäsche von ihrer Kleidung zu befreien. Sie legte Jackett, Bluse und Hose fein säuberlich auf das Bett und ihre Schuhe stellte sie nebenan. Es fühlte sich an, als wäre sie minutenlang unter Wasser gewesen und nun endlich zum Atmen aufgetaucht. Die junge Frau spürte das Prickeln auf ihrer Haut, als die Eindrücke der Räumlichkeiten ungehindert auf sie einprasselten.

      Sie stand mit ausgebreiteten Armen mitten im Raum, die Augen erneut geschlossen. Sie fühlte Xellesas Präsenz als sich Erinnerungen und Visionen zu vermischen begannen. Sie hörte ein fernes Lachen und sah Freude, sie hörte ein leises Schniefen und spürte Traurigkeit, sie hörte wütendes Schnauben und sah Zorn. Auf nackten Fußsohlen folgte sie den Wahrnehmungen vom Schlafzimmer ins Lesezimmer. Ein Faden wob sich zwischen einem Bücherregal und Aegarias Hautbildern. Sie ging dem Faden nach und öffnete die Augen. Vor ihr lag ein offenes Buch, die Quelle der Emotionen. Der Faden verblasste genauso wie die Eindrücke. Die Seherin kehrte in die Realität zurück.

      Bedacht nahm die das Buch in die Hände und pustete den Staub weg, doch es war zu dunkel, um die Schrift zu erkennen. So ging sie an das nächste Fenster, strich den Vorhang zur Seite und begann im Mondlicht zu lesen. Es war Xellesas Handschrift, die vom Krieg berichtete und davon, dass sie und Aegaria nach Calpheon gehen sollten.
      Erijon ….Leyla …ich war meinen Kindern nie eine gute Mutter und ich befürchte ich werde es ihnen auch nie sein. Die Worte berührten Aegaria. Sie legte die flache Hand auf die Buchseite.
      „Das wirst du“, flüsterte sie. „Eines Tages wirst du für sie da sein.“
      Nach wenigen Momenten las sie weiter. Sie schrieb von Khaleds Untreue und von der Nacht in der er versucht hatte, seine Lust an Aegaria auszuleben. Sie erinnerte sich daran als wäre es erst gestern gewesen, denn sie hatte den Augenblick mehr als nur einmal erlebt. Schon als sie in Heidel angekommen war, wusste sie, dass Khaled mehr Interesse hatte, als nur ein Mädchen zu beschützen.
      Sie hatte seine Hand zwischen ihren Beinen gespürt, bevor es Realität geworden war und wie in ihren Träumen war es bei der ersten kleinen Berührung zu Ende. Doch sie wusste nicht, wie es dazu kam. Ein unnatürlicher Stoß, aus dem Nichts entfacht, warf den Mann zurück. Ein Ausdruck ihrer Abneigung gegen seine Tat. Aegaria las weiter und stellte erleichtert fest, dass dieser Ausbruch von Magie nicht erwähnt wurde. Die restlichen Worte handelten nochmals von Xellesas Kindern und der Pest.

      Etwas peinlich berührt, dass sie einfach so die persönliche Aufzeichnung gelesen hatte, legte sie das Buch wieder an seinen angestammten Platz zurück. Sie zog den Vorhang zu und huschte ins Schlafzimmer, um sich wieder anzukleiden. Wenige Minuten später war die Wohnung so verlassen wie zuvor. Nur Spuren im Staub verrieten, dass jemand dort gewesen war.
      Aegaria war nie besonders gläubig. Sie lernte von Elion erst, als sie in Heidel war, doch sie akzeptierte den Glauben und die Vorstellung, dass ein Gott über alle Gläubigen wachte. Diese Nacht jedoch entzündete sie eine Kerze in ihrem Zimmer und setzte sich davor. Sie starrte ins Feuer während sie leise sprach: „Bitte Elion, bring Xellesa wohlbehalten zurück. Ich kann Leyla keine Mutter sein, egal wie sehr ich mich bemühe, aber sie braucht eine Mutter. Sie braucht ihre Mutter. Bitte.“
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    • Erinnerungen


      Aegaria stand noch vor dem Morgengrauen auf, da ihr Herr mit ihr sprechen wollte. Er stellte Fragen zu Khaled, Fragen über die die Seherin nachdenken sollte, Fragen über die sie träumen sollte. Das Gespräch war kurz und recht einseitig und die junge Frau entschwand aus seiner Schreibstube so schnell sie konnte und ging in den Garten des Anwesens. Das Kapellenviertel war an einer Anhöhe und sie setzte sich auf das Bänkchen, von dem aus sie die Stadt überblicken konnte. Vereinzelte Nebelschwaden stiegen über die Stadt auf, als die ersten Sonnenstrahlen auf das Wasser des Demi trafen.

      Khaled. Viele in der Familie mochten den Mann nicht. Er war rücksichtslos, arrogant und nahm sich, was er wollte. Doch er war ein äußerst geschickter Geschäftsmann und damit konnte er sich sogar die Loyalität der Familie erkaufen. Loyalität aber keine Liebe oder Zuneigung. Aegaria betrachtete ihn aus zwei Sichtweisen, so als würde sie einmal mit ihrem gelben Auge auf ihn sehen und einmal mit ihrem Blauen. Sie schmunzelte kurz bei der Analogie.

      Plötzlich erschien Asmael links neben ihr auf der Bank. Der junge Mann hatte ihr gestern doch noch den Namen verraten, obwohl er aus der Taverne geflüchtet war. Dabei hatte sie ihm extra ein Bier bestellt, das sie dann jedoch Arri schenkte. Er hatte leicht gebräunte Haut, pechschwarze Haare und Augen, so dunkelbraun, dass sie beinahe schwarz waren. Unter seinen einfachen Gewändern zeichnete sich ein athletischer Körper ab.
      „Hallo“, grüßte sie ihn und Asmael erwiderte den Gruß mit einem Kopfnicken und einem einnehmenden Lächeln.
      „Du willst hören, was ich über Khaled denke, bist du deswegen gekommen?“, fragte Aegaria und er nickte abermals, bevor er sich ihr vollkommen zuwandte. Er schlug sein rechtes Bein über das linke und legte den rechten Arm auf die Lehne der Bank. Sein Blick war intensiv aber gleichzeitig auf gewisse Weise kultiviert. Sie wandte sich nun auch ihm zu. „Na gut, aber es wird sich eigenartig anhören.“
      Er sagte nichts, zeigte keine Regung, doch sie wusste, dass er ihre Worte einfach akzeptieren würde, also fing sie an zu erzählen.

      „Khaled hat mein Leben gerettet. Als ich mich daheim an den Ort begab, wo mich die Sklavenhändler finden würden, wusste ich schon, dass ich nicht lange in ihrer Gewalt sein würde. Es war meine beste Möglichkeit, meine Heimat zu verlassen. In Heidel war es Khaled, der die Männer damit beauftragt hatte, die Sklavenhändler zu töten. Und er hat mich in seinem Haus aufgenommen, in dem auch Xellesa lebte, die sich um mein Wohlergehen kümmerte. Er war, nein, er ist für mich ein Held.“
      Asmael lächelte ihr zu und sie erzählte nach einer kurzen Pause weiter.
      „Aber natürlich ist das nicht alles. Es dauerte nicht lange und ich merkte, dass er nicht nur ein Mann ist, der einfach gute Taten vollbrachte, sondern auch schreckliche Dinge tat. Er ist ein Verbrecher und scheut keine Gewalt und kurz darauf haben die Träume angefangen. Ich war damals noch jung und verstand nicht genau, was er wollte, ich wusste nur, dass ich es nicht wollte. Und ich schämte mich zu sehr, um mit jemanden darüber zu reden. Ich hatte Angst, er würde mich dann nicht mehr mögen und ich würde wieder alles verlieren.“
      Der Blick des jungen Mannes war verständnisvoll und er nickte auf ihre Worte. Für einen Moment berührte er Aegarias Schulter. Eine aufmunternde Geste.
      „Ich wusste aber genauso, dass mir nicht wirklich etwas passieren würde und so kam es. Doch ich musste mit Xellesa weggehen. Ich spürte, dass sie ihn nicht mehr mochte, für mich aber blieb er der Mann, der mein Leben rettete und egal was er macht, solange er mir nichts antut, so lange wird er mein Held bleiben.“
      Aegaria wandte den Blick von Asmael ab, denn irgendwie spürte sie ein Kribbeln im Bauch, wenn sie ihn länger ansah. Sie sah wieder zur Stadt hinab und schwieg für einige Zeit.

      „Das ist genauso verrückt, wie ich bin, oder? Ich sehe in einem Verbrecher, der so vielen Leuten Leid zufügt, einem Mann, der sich an mir vergehen wollte, einen Helden. Und ich werde es ihm niemals sagen können.“
      Auch Asmael wandte einen Blick nach vorne. Er sagte weiterhin nichts, dennoch war er verständnisvoll und tröstend, alleine indem er hier war.
      „Die Stadt ist wunderschön“, meinte die Seherin zu dem jungen Mann und abermals stimmte er ihr wortlos zu.

      „Mit wem sprichst du?“, vernahm sie plötzlich eine verwunderte Stimme von der anderen Seite. Es war eine der Bediensteten, die sich um die Pflege des Gartens kümmerte. Aegaria sah überrascht zu ihr und dann wieder zu ihrem Begleiter, um ihn der Frau vorzustellen. Doch Asmael war verschwunden, so schnell wie er gekommen war.
      „Nur mit mir selbst“, erwiderte Aegaria. Es stimmte nicht, aber sie wollte jetzt keine Unterhaltung mit der Gärtnerin beginnen, denn eigentlich wollte sie den Morgen genießen. Wohin war Asmael schon wieder gegangen? Sie wünschte sich, er wäre noch etwas geblieben.
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    • Gedanken


      Die letzten vierundzwanzig Stunden waren denkwürdig gewesen. Aegaria hatte am Abend eine Begegnung mit Scrula Guerra auf der Brücke gehabt, die sie sich lieber erspart hätte. Dabei war sie selbst schuld an dem Gesprächsverlauf. Doch sie verstand nicht, warum die Bitte um ein Gespräch mit Aiako derlei Wellen schlug. Was hatte sie getan, dass ihr solch ein Misstrauen entgegengebracht wurde?

      Die junge Frau lehnte sich an die Brüstung, um auf den Demi hinabzusehen. Heute war sie nicht auf der Brücke gewesen, auf der sie sich sonst gerne aufhielt, sondern etwas abgeschieden unter einem großen Baum. Ein kleines Segelboot fuhr gerade dem Flusslauf entlang, während sie in Gedanken vertieft war. Das Misstrauen war nicht einmal der Punkt, der sie wirklich störte, denn sie wusste, dass sie ehrlich war. Dass sie in den Augen der alten Frau wohl nicht einmal als eine Person zählte, tat ihr wirklich weh. Aegaria wusste über ihre geistigen Schwächen und sie akzeptierte sie. Allerdings bemühte sie sich tagtäglich eine gute Bürgerin zu sein, ihrer Arbeit nachzukommen und sich ihren Platz in der Welt zu verdienen. Sie war freundlich, sie hatte niemanden Leid zugefügt, niemanden bestohlen oder sonst ein Verbrechen begangen. Und trotzdem fühlte sie sich in der Nähe von Scrula, als hätte sie etwas angestellt.

      Leise seufzte sie. Ihr wurde vorgeworfen, dass sie auf die Nachfrage, woher ihr unlängst verheilter Kratzer im Gesicht stamme, eine ausweichende Antwort gab, obwohl sie weder log und nach erneuter Nachfrage die Wahrheit sagte. Sie hatte es getan, weil sie sich schämte, denn die Wahrheit sagte aus, dass sie ihren Herrn verärgert hatte und es war gänzlich egal, ob es gerechtfertigt war oder nicht. Sie war seine Bedienstete und sie hatte ihn nicht zu verärgern. Dieses Schamgefühl wurde ihr von der Frau Hauptmann nicht zugestanden und das war der ihr wunder Punkt. Schon beim Nachdenken darüber, spürte sie, wie sich ein Kloß in ihrem Hals bildete.

      Eine warme Hand legte sich auf Aegarias Unterarm. Sie sah nach links und blickte in die beruhigenden und mitfühlenden Augen Asmaels. Der junge Mann war unbemerkt an ihre Seite getreten. Er lächelte ihr zu und wischte ihr eine Träne von der Wange, die sie ebenso wenig bemerkt hatte. Er sagte nichts, machte ihr keine Vorwürfe, gab keine leeren Phrasen von sich, sondern spendete einfach Trost durch seine Anwesenheit. Aegaria hob die Mundwinkel zu einem dankbaren Lächeln und war erstaunt, dass es ihr nicht schwerfiel. Seine positive Einstellung war einfach ansteckend. Nach einigen Momenten des Ansehens, wanden beide den Blick wieder zum Fluss hinaus.

      Vielleicht war all das nicht so schlimm, dachte Aegaria sich. Es gab so viele Personen, die es noch deutlich schlechter hatten, die mehr Sorgen hatten als ein verletztes Ego und eine zerkratzte Wange. Und irgendwann würde es vorbei sein. Irgendwann würde sich die Stadtwache wieder auf andere Fälle konzentrieren und sie würde nicht mehr der Spielball zwischen den beiden Adelshäusern sein. Vielleicht würde sie eines Tages sogar lernen können, ohne ihre Medikamente zu leben und somit nicht mehr abhängig von der Gunst ihres Herrn zu sein.
      Erneut wanderte ihr Blick zu Asmael, der weiterhin in den Fluss starte. Sein Brustkorb hob und senkte sich langsam. Sie wusste nicht viel über den jungen Mann. Außer seinen Namen hatte er nichts gesagt. Weder woher er kam, noch was er tat oder wollte. Seit einigen Tagen war er einfach nur da und sie war froh über seine Anwesenheit.
      „Wollen wir spazieren gehen?“, fragte sie ihn nach einer Weile und er nickte. Sie nahm seine Hand in ihre und löste sich von der Brüstung.
      "Japan ist ein wenig so wie Österreich: da hast du erstens das Meer..." 8o
    • Rebellion


      Aegaria schloss die Tür ihres Zimmers hinter sich. Sie war schnell nachhause gegangen, nachdem sie von Laylah eine Kippe, wie die hagere Frau es nannte, abgekauft hatte. Eigentlich wollte sie das Zeug gar nicht haben, denn sie hielt von Drogen und Rauschmittel nichts. Doch Laylah war hartnäckig gewesen und irgendwie tat ihr die Frau leid. Sie hatte ihr die Silbermünzen überlassen, die sie bei sich hatte und so gesehen war es fair, dass sie die Ware bekommen hatte. Zudem erinnerte Aegaria sich jetzt auch daran, dass ihr einmal gesagt wurde, dass es nicht gut ist, armen Leuten einfach ohne Gegenleistung etwas zu schenken, weil dadurch macht man sie abhängig.

      Jedenfalls war sie jetzt in ihrem Zimmer und hatte eine Kippe. Sie legte sie auf den Tisch in ihrem Zimmer und starrte sie unschlüssig an. Sollte sie das Rauschmittel einfach wegwerfen? Es wäre sicherlich am einfachsten. Wegwerfen, alles vergessen und aus. Doch irgendwie ging davon auch ein gewisser Reiz aus. Niemand hat ihr verboten, etwas zu rauchen und eigentlich hatte sie kein Interesse daran, trotzdem war dieser Reiz da. Etwas zu tun, was sie sonst nicht tat. Etwas zu tun, das nicht gern gesehen wurde.

      Kurzerhand schnappte die junge Frau sich die Kippe, steckte sie sich im Mund und entfachte ein Streichholz, mit dem sie sonst die Kerzen anzündete. Sie hielt die Flamme an das andere Ende der Kippe, doch es stiegen nur ein paar Rauchschwaden auf, anstatt dass sie zu glühen begann. Aegaria schüttelte das Streichholz aus, bevor sie sich die Finger verbrannte. Warum funktionierte es nicht? Sie rief im Kopf die Bilder von rauchenden Personen auf. Schon oft hatte sie es gesehen und da fiel ihr ein, dass beim Anzünden immer gut Luft angezogen wurde. Also versuchte sie es ein weiteres Mal.

      Dieses Mal sog sie Luft durch den Stingel und die Streichholzflamme brachte die erwartete Glut. Aegaria zog weiterhin tief Luft ein. Es dauerte nur wenige Augenblicke bis der süßlich herbe Rauch ihre Atemwege kratzte. Sie spukte die Kippe aus und trat schnell mit dem Schuh darauf, um die Glut zu ersticken. Gleichzeitig beugte sie sich vor und hustete. Sie hustete, wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Sie keuchte und schnappte nach frischer Luft, um nur in einem weiteren Hustenanfall den Rauch endgültig aus der Lunge zu vertreiben. Selbst dann kratzte es noch etwas und sie räusperte sich mehrmals. Ihr Kopf war hochrot geworden und im ganzen Zimmer stank es nach dem Rauch. Furchtbar und grässlich! Anders konnte sie es nicht beschreiben. Wieder musste sie husten.

      Aegaria stürzte zum Fenster, um es zu öffnen und frische Luft hereinzulassen. Wie konnte man so etwas nur rauchen ohne einen Hustenanfall zu bekommen? Wie konnte man so etwas nur mögen? Sie schüttelte den Kopf und hob die erstickte Kippe auf, um sie wegzuwerfen. Nein, sie würde ganz bestimmt nicht noch einmal so etwas kaufen. Einmal ist keinmal, hatte Laylah zur ihr gesagt und somit würde es für Aegaria bei keinmal bleiben. Und jetzt brauchte sie einen Fruchtsaft, um den lästigen Geschmack aus dem Mund zu bekommen. Trotzdem musste sie grinsen. Ob Arri stolz darauf wäre, dass sie sich getraut hat, etwas zu probieren?
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    • Feuer


      Warmer Sand umgab Aegarias nackte Füße. Er fühlte sich angenehm und richtig an, nicht so wie der kalte Stein in der Stadt. Das Mädchen sah, wie sie mit den Zehen im weichen Boden spielte. Es fühlte sich nach Zuhause an. Das Gefühl war falsch, sie lebte jetzt in Calpheon und in Calpheon gab es keinen solchen Sand. Dafür hatte sie dort Freunde, eine Arbeit und ein Dach über den Kopf, doch irgendetwas verband sie noch immer mit der Wüste. Sie ließ sich auf die Knie fallen und den feinen Sand durch die Finger rieseln.

      Sie sah vom Boden auf, blickte in die Ferne über Sanddünen, die sich scheinbar bis in die Unendlichkeit erstreckten. Die Sonne schien auf sie herab und wärmte ihren Körper. Sie war schön und reinigend, vertrieb die innere Kälte. Aegaria kannte den Ort gut, an dem sie sich befand. Es war die Sanddüne, die ihr ganz allein gehörte und niemand war weit und breit, denn die Sanddüne war, genauso wie diese Wüste und die Felslandschaft hinter ihr, Teil ihrer Welt. Die Welt, in der sie vollkommen frei war, die Welt die sie niemals mit anderen würde teilen können.

      Die junge Frau sprang auf, holte Anlauf und ließ sich auf den Hintern in den weichen Sand fallen, um die Düne hinunterzurutschen. Sie lief den nächsten Hang wieder hinauf und warf sich schwungvoll auf dem Bauch um erneut hinunterzugleiten. Sie lachte und tollte über weitere Dünen. Der Sand war überall, in ihrer seidigen Kleidung, in ihren Haaren, doch er kratzte nicht, sondern gab nur seine erwünschte Wärme von sich.

      Ein tiefes und unerwartetes Grollen ließ Aegaria innehalten. Ihre unterschiedlich farbigen Augen suchten den Horizont ab und entdeckten Gewitterwolken, die vom Wind nähergetragen wurden. Blitze zuckten vom Himmel in die Wüste hinab. Das war nicht richtig! In ihrer Wüste gab es keine Gewitterwolken und keine Blitze und kein Donnergrollen. Misstrauisch sah sie sich um. War es vielleicht gar nicht ihre Welt? Aber wo war sie dann? Es wurde dunkler, als die Wolken die Sonne verdeckten und kühler, als die wärmenden Sonnenstrahlen ausblieben.

      Auf Aegarias Bauch begann die Haut zu kribbeln. Genau an den Stellen, an denen sich die schwarze Tinte der Hautbilder befand. Das Kribbeln wurde stärker und auch ihr tätowierter Arm und Fuß schlossen sich an. Erste Regentropfen fielen auf den Sand und plötzlich wurde Aegaria sich bewusst, dass sie nicht in ihrer Welt war, sondern träumte. Sie empfing eine Vision. Unerwartet, weil sie sich bemüht hatte, in den letzten Nächten nicht zu träumen. Der Regenfall wurde stärker, durchnässte sie und bildete Pfützen im Sand. Die junge Frau blieb still stehen, beobachtete nur.

      Schier endlos schien der Regen zu fallen, doch als die Wolken sich auflösen, war der Boden nicht mehr sandig braun, sondern von einem grünen Flaum bedeckt. Pflanzen gediehen und wuchsen. Gräser, Blumen, Sträucher sogar Bäume streckten sich den Himmel entgegen. Ein prächtiger Wald bedeckte die vormalige Wüste. Aegaria ging neugierig tiefer in den Wald hinein. Sie hörte das Zwitschern der Vögel und die anderen Geräusche der Fauna. Plötzlich trat sie vor ein Haus, das besser nach Calpheon passte als in den Wald. Die Steinmauern waren bröckelig und verdreckt, ein Fenster eingeschlagen und mit einem Bretterverschlag verschlossen. Die Türe öffnete sich mit einem lauten Knarzen und heraus trat Xellesa. Sie wirkte beschäftigt. Aegaria rief ihren Namen, doch die Frau verschwand in den Wald und war verschwunden.

      An ihrer Stelle erschien ein Mann, mit dem Aegaria niemals gerechnet hätte. Er war großgewachsen und wirkte gepflegt. Bei seinem Anblick zuckte sie kurz zusammen. Es war Khaled.
      „Hab keine Angst“, meinte er zuversichtlich. „Ich werde dir nichts antun, ich muss nur in Xellesas Labor.“
      Seine Worte sprachen die Wahrheit, das spürte sie. Immerhin hatte er sich um die Sklavenhändler gekümmert und ihr Leben gerettet. Sein Versuch, sich an ihr zu vergehen, schlug fehl und er würde es nicht nochmals wagen oder vielleicht war es überhaupt nur ein Fehltritt. Doch was hatte es mit dem Labor auf sich? Xellesa hat an Medizin geforscht, das wusste Aegaria, doch sie wusste von keinem Labor. Und warum sollte Khaled sich dafür interessieren? Noch während sie darüber nachdachte, öffnete er die Tür zu dem Haus.

      Ihm schlug ein Feuer entgegen und verbrannte seine Kleider und sein Gesicht. Er schrie und warf sich zu Boden, um das Feuer zu ersticken, doch der Wald entzündete sich und das Feuer wurde stärker und stärker. Er schrie nach Hilfe, nach Aegarias Namen, doch sie konnte nichts tun. Das Feuer brannte ihm das Fleisch von den Knochen und entfachte weitere Pflanzen. Der ganze Wald stand in Flammen und dichten, schwarzen Rauch. Das Feuer tobte um sie herum, doch es verletzte sie nicht. Sie spürte nicht einmal die Hitze, die vom Feuer ausgehen müsste.

      Nach und nach zerfiel alles zu Staub, das Grün des Waldes wurde braun und schwarz und häufte sich zu Dünen aus Asche. Der Stein des Hauses wurde zermahlen, sodass nichts übrigblieb. Ein Windstoß fegte die Asche weg und legte den Sand der Wüste frei. Warmer, weicher Sand umgab Aegarias nackte Füße. Sie sah von ihren Füßen auf und blickte auf Khaleds schwarze Knochen, die vor ihm im Sand lagen. Er brauchte ihre Hilfe!
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    • Reisen


      Es war kalt. Trotz der Kutsche, des Mantels und der dicken Strümpfe war es kalt. Aegaria zog den Mantel enger. Sie hatte die letzten Wochen fleißig Geld beiseite geschaffen. Weniger Besuche im Lys Noir oder anderen Tavernen, keine sonstigen Ausgaben und so kamen Woche für Woche ein paar Silberstücke zusammen. Jetzt waren es genug, um nach Epheriaport zu reisen. Glücklicherweise war die Stadt innerhalb eines Tages erreichbar. Die Sonne blinzelte gerade erst über den Horizont, als die Stadtmauern Calpheons im morgendlichen Dunst verschwanden. Trotz der Umstände freute sich Aegaria sehr, denn sie würde Arri wiedersehen und immerhin hatte sie versprochen, dass sie sich besuchen würden.

      In letzter Zeit war sie oft einsam. Zwar nicht wirklich einsam, es waren immer Leute um sie herum, aber Leute, die ihr etwas bedeuteten waren seltener oder gar nicht anzutreffen. Arri, Julianna, Asmael, Inasthrae, alle vier hatte sie schon lange nicht mehr gesehen und alle vier betrachtete sie als Freunde. Natürlich hatte sie noch ein paar andere Freunde, aber die Hälfte war unauffindbar oder konnte sie nicht spontan treffen. Zusammen mit den winterlichen Temperaturen führte es zu einer ungewöhnlich melancholischen Stimmung bei Aegaria. Sie versuchte es vor anderen zu verstecken. Doch wenn sie alleine in ihrem Zimmer war, gab es die eine oder andere Stunde, in der sie sich selbst bemitleidete und in der auch mal Tränen vergossen wurden.

      Aber wie die aufgehende Sonne wurde die Stimmung wieder besser. Vor kurzem hatte sie in den Straßen ein Mädchen, nein, eine junge Frau getroffen, die ein neues Lied getextet und somit vor sich hingesungen hatte. Im Winter traf man nicht viele Künstler in den Straßen. Die Unterhaltung mit Heather, so hieß sie, war sehr angenehm und erfrischend gewesen. Sie war blind und neu in der Stadt, aber voller Lebensfreude und dem Willen, sich durchzuschlagen. Aegaria würde Mendred von ihr erzählen, vielleicht gab es eine Möglichkeit, die junge Sängerin zu fördern.

      Ein tiefes Schlagloch riss das Mädchen aus den Gedanken und sie keuchte kurz auf. Die Kutschfahrt war in erster Linie günstig gewesen und somit gab es keine gepolsterten Sitze. Der Kutschführer warf einen kurzen Blick zurück, setzte ein breites Grinsen auf und knallte mit der Peitsche. Doch Aegaria störte sich nicht daran. Nicht heute, denn in einen halben Tag würde sie Arri wiedersehen.
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    • Labor


      Aegaria war heute mit Khaled in Xellesas Labor gewesen. Es war in vielerlei Hinsicht eine sehr interessante, teilweise auch verstörende Erfahrung gewesen. Zuerst musste sie sich überwinden, Khaled abzuholen und mitzunehmen, doch sie hatte es ihm versprochen und sie wusste, dass er mitkommen musste. Nicht warum, nur, dass es sein musste. Dick in warme Kleidung gehüllt brachen die beiden auf. Das Labor war im Armenviertel von Calpheon versteckt. Aufgrund ihres Traumes konnte sie es wiederfinden.

      Vor der Türe bemerkte Aegaria erstmals, dass Khaled wirklich Angst hatte. In ihrem Traum war er an der Tür von einem Feuer hinweggefegt worden und sie hatte es ihm erzählt. Sie entdeckte auch, dass es ihr gefiel, wenn er Angst hatte oder, wenn er etwas wollte und es nicht erreichen konnte. Khaled war ein bösartiger aber mächtiger Mann doch in diesem Augenblick, an diesem Tag war er auf sie angewiesen und sie konnte mit ihm tun, was sie wollte. Er war ihr in diesem Augenblick untergeordnet. Aegaria wusste bisher nicht, dass sie so empfinden konnte. Bisher hatte sie diese Machtspielchen nur bei anderen gesehen oder aus der Sicht des Betroffenen erlebt. Es war mühsam, die Freude darüber zu verbergen.

      Der bedeutungsschwangere Ort löste bei Aegaria mehrere, realitätsvermischte Visionen auf, die ihr schlussendlich halfen, die Tür zu öffnen, ohne die Feuerfalle auszulösen. Drinnen angekommen war es anders, als Aegaria es erwartet hatte. So muss eine Folterkammer aussehen, dachte sie sich, ohne dass sie zuvor eine solche gesehen hatte. Geräte für Alchemie und Operationen waren im Raum angeordnet und einige Bücher und Notizen. Für einen Augenblick war sie versucht, ihre Kleidung abzulegen, um alle Eindrücke zu sammeln, die dieses Labor abstrahlte und um Khaled noch mehr das vorzuenthalten, was er begehrte, doch die Vernunft siegte. Auch wenn sie momentan die Kontrolle über den denkenden Teil des Mannes hatte, so wusste sie nicht, was passieren würde, wenn seine Instinkte die Oberhand gewinnen würden. Zudem war es kalt.

      So blieb ihr nichts anderes über, als sich die Notizen anzusehen und in den Büchern, die Xellesa geschrieben hatte, zu blättern, um herauszufinden, ob sie etwas über ihr Medikament festgehalten hatte. Etwas, das ihr helfen würde, das Medikament aus anderen Quellen beziehen und somit von Haus Ceos unabhängig zu werden. Für einen Augenblick glaubte sie, die Lösung gefunden zu haben, doch es war nur eine Akte über sie selbst. Sie las den Inhalt:

      Patient: Aegaria
      Alter: 12 Jahre
      Herkunft: Sandkornbasar, Valencianisches Reich
      Körperliche Merkmale/ Auffälligkeiten: verschieden farbige Augen: blau si./ gelb dex.

      Was ist über Eltern bekannt: nichts

      Beschwerden/ Beobachtungen:
      • Unterbrochener Schlaf
      • Sprachliche Barrieren
      • Durchlebt unregelmäßig traumatische Ereignisse aus Verg.
      • Tagträumt
      • Sieht Erscheinungen ?!!!
      • Entzugserscheinungen ? (Zittern, Schwitzen, Kopf- und Gliederschmerzen, etc.)


      Behandlungsmöglichkeiten/pers Notizen:

      Aegaria wurde im Alter von 12Jahren aus den Händen von Sklavenhändlern befreit. Inwieweit eine Schädigung durch die Sklavenhändler erfolgte oder ob oben aufgeführte Beobachtungen bereits vorher ihren Ursprung hatten, ist unklar.

      Ich werde vorerst eine Kräutereinnahme verordnen um die nächtliche Unruhe zu minimieren um einen durchgehenden Schlaf zu ermöglichen. Nach Wirkungsweise dessen, werden seelische Krankheiten auf Abweichungen beobachtet.

      Angenommene Entzugserscheinungen werden ebenfalls mit einem Kräutersud behandelt.


      Nächtliche Ruhigstellung, Tee aus
      • Wildgras

      Zur Linderung der Entzugserscheinungen Sud aus:
      • Feuerblattblume
      • Wildgras
      • Pinienbaumsaft

      Die Aufzeichnung war über sechs Jahr alt und den Inhalt kannte Aegaria, dennoch nahm sie das Papier an sich, als wäre es ein verlorener Schatz gewesen. Sie dachte kurz zurück an die Zeit, als sie gerade in Heidel angekommen war, doch die Realität des Labors holte sie schnell wieder ein. Sie spürte plötzlich auch, dass hier Menschen gestorben waren. Teils sehr qualvoll. Es war, als würden sich die Wände auf sie zu bewegen, als würde ihr der Raum keinen Platz mehr zum Atmen lassen. Khaled hatte sie für einen Moment vollkommen vergessen, ebenso die Freude daran, ihm auf der Nase herumtanzen zu können. Sie wollte wieder hinaus! Sie wandte sich um und sah ihn, wie er gerade ein Bücherregal inspizierte.

      Aegaria wies Khaled auf das Tagebuch hin, denn das war etwas, das er suchte und vereinbarte, dass er ihr sagen würde, wenn etwas über sie darinstand. Glücklicherweise wollte er ebenfalls gehen. Erst als sie die Tür hinter sich verschloss, bemerkte sie, wie groß der Druck gewesen war, der auf ihr lastete. Es war nicht nur der Raum selbst, es war die Entdeckung, die sie über Xellesa gemacht hatte. Sie wusste, dass die Frau kein Unschuldslamm war, aber sie hatte nicht gewusst, dass sie bereit war, soweit zu gehen. Niemals würde sie Leyla erzählen können, was sie hier gesehen hatte. Sie musste es sogar vernichten, damit niemand weiteres zu Schaden kommt. Noch wusste nicht wie, aber zur Sicherheit behielt sie den Schlüssel für sich. Mit ein paar Worten erklärte sie Khaled, dass außer ihr sowieso niemand in den Raum gehen konnte, ohne in Lebensgefahr zu kommen. Es war eine glatte Lüge, denn abseits der Feuerfalle an der Tür gab es keine weiteren Gefahren. Doch das musste er nicht wissen. Niederbrennen. Sie würde das Gebäude niederbrennen. Spätestens, wenn Xellesa zurückkehrt, würde sie es tun müssen.

      Wer würde die Frau sein, die zurück in die Stadt kommt? Die freundliche Xellesa, die sie gekannt hatte, oder das Monster, das grauenvolle Taten in einem geheimen Labor vollbrachte? Aegaria hoffte auf ersteres, befürchtete aber letzteres.
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    • Wintergedanken


      Es war spät oder genaugenommen früh. Die Mitternachtsstunde war schon längst herumgegangen. Aegaria saß auf ihrem Bett und starrte zum Fenster. Eine kleine Flamme spiegelte sich im Glas und hätte den Blick nach draußen verhindert, wenn nicht der Mond sein silbriges Licht ausstrahlen würde. Beinahe gespenstisch glitzerten die gefrorenen Dächer in der Nacht. Kaltes, weißes Licht im Gegensatz zum warmen Leuchten des Kerzenfeuers. So gegensätzlich, wie die Gefühle, die sich in Aegaria abspielten.

      Der Winterball. Einerseits war es schön, auf einen solch prunkvollen Fest sein zu dürfen und sie hatte sich sehr darüber gefreut, alte und neue Bekanntschaften zu treffen, ein schönes Kleid zu tragen und sich ungestraft am leckeren Nachspeisenbuffet bedienen zu können. Sie hatte den wundervollen Gesang der blinden Heather gelauscht und sogar eine Art von Verabredung mit einer Tochter aus einem Adelshaus. Keine romantische Verabredung, sondern ein Treffen um über eine gemeinsame Freundin zu sprechen. Eine gemeinsame Freundin, die viel zu früh aus dem Leben gerissen wurde.

      Das war der Grund für die andere Seite ihrer Gefühlslage. Am Winterball hatte Heather ihr berichtet, dass Lady Julianne Maria Guerra verstorben war. Auf einer Eisplatte ausgerutscht und in die Tiefe gestürzt. Irgendwie konnte sie es im ersten Moment nicht so recht glauben, denn Julianne war vieles, aber sicher nicht tollpatschig. Und im nächsten Moment wollte Aegaria es nicht glauben. Doch es war geschehen, sie musste den Tatsachen ins Auge sehen. Sie riss sich zusammen, denn immerhin war sie auf einem Ball und hob sich die Trauer für später aus. Für jetzt.

      Mit dem Tuch, das sie am Ball bekommen und zurückgeben vergessen hatte, wischte sie sich die Tränen aus dem Augen. Dennoch blieb der Blick auf die Kerze, die sie für Julianne angezündet und ins Fenster gestellt hatte, verschwommen. Es war das erste Mal, dass jemand verstorben war, den sie selbst ins Herz geschlossen hatte und sie fürchtete, dass es nicht das letzte Mal sein würde. Am liebsten hätte sie vor Sorge einen Brief an Arri aufgesetzt, um sich zu erkundigen, ob es ihr gut gehe. Doch im Inneren wusste sie, dass es falsch war, sich jetzt zu ängstigen und an der Sorge zu zerbrechen. Aegaria hätte auch einfach ihre Fähigkeiten einsetzen können. Arri kannte sie gut genug, um sie selbst über die Entfernung hin zu sehen. Doch sie tat es nicht.

      Seitdem sie nicht mehr versuchte, die Zukunft hervorzusehen, den einzelnen Fäden, die von anderen Personen ausgingen, zu verfolgen, seitdem ging es ihr selbst besser. Sie hatte kaum noch Erscheinungen und selbst wenn, konnte sie diese gut von der Realität unterscheiden. Sie hatte nur noch selten Momente, in denen sie sich unabsichtlich vollkommen von der Außenwelt isolierte und sie war zu dem Schluss gekommen, dass es einen Zusammenhang zwischen ihrem Geist und ihren Fähigkeiten gab. Sie konnte das eine oder das andere ordentlich nutzen, aber nicht beides. Wollte sie im Kopf klar bleiben, musste sie auf die Voraussicht verzichten. Wollte sie die Zukunft erkennen, musste sie mit ihren geistigen Beeinträchtigungen rechnen. Wobei sie nicht davon ausging, von dem einen oder anderen jemals komplett befreit zu sein.

      Die Gedanken des Mädchens kehrten zum Winterball zurück und die Trauer wurde wieder durch Freude verdrängt. Freude für Leyla, die das Rosenspiel gewonnen hatte. Es war ein schöner Preis gewesen und der Schmuck würde ihr sicherlich gut stehen. Dennoch kam Aegaria nicht ganz darüber hinweg, dass sie nur eine Trostpreisrose erhalten hatte. Zwar war sie Tyler, wie sich der Mann nun nannte, dankbar, dass er überhaupt daran gedacht hatte, doch gerne hätte sie eine Rose von jemanden bekommen, der seine Rose nur ihr schenken wollte. Doch dafür war sie wahrscheinlich zu still gewesen und zu sehr im Hintergrund. Obendrein war es unter den Adeligen noch so, dass gewisse Männer die Rose wohl gewissen Frauen schenken mussten, da sie sonst Ärger bekommen hätten. Es war kompliziert. Vielleicht war es besser so, dass sie nur die Trost-Rose bekommen hatte.

      Aegaria seufzte leise und stand vom der Bettkante auf. Mittlerweile war sie müde, und sie musste sich noch irgendwie von dem Kleid befreien, bevor sie sich ins Bett legen konnte. Normalerweise hätte sie Leyla darum gebeten, ihr zu helfen, doch die Kleine war sicherlich schon im Land der Träume. Irgendwie würde sie die Knöpfe am Rücken schon geöffnet bekommen. Und vielleicht konnte sie einmal einen Schneider fragen, wie man auf die hirnrissige Idee kommt, Knöpfe hinten anstatt vorne anzubringen. Nach einiger Zeit hatte sie es geschafft und legte sich schlafen.

      Die Kerze brannte die Nacht hindurch, erst als Aegaria am späten Vormittag die Augen öffnete, war die Flamme erloschen.
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    • Hinterlassenschaft


      Aegaria schloss die Tür zu ihrem Zimmer und legte den Brief und die kleine Metallschachtel ab. Sie zog schnell die Schuhe aus und stellte sie neben die Tür, damit sie den Boden nicht schmutzig machen würde. Den Mantel hing sie auf und dann schnappte sie sich beide Dinge wieder. In der Metallschachtel befand sich eine der Rosen vom Winterball. Jinelle de Sculpare, die junge, adelige Frau, die Aegaria auf dem Ball kennengelernt hatte, gab ihre Rose mit etwas Salz hinein, damit sie trocknen würde und schenkte sie Aegaria, als diese erzählte, dass sie die Rosen schön fand. Es war eine freundliche Geste gewesen und unterstrich den Flair des Gesprächs, dass die beiden vorhin miteinander geführt hatten.

      Sie setzte sich auf das Bett und legte die Schachtel in die Schublade ihres Nachtkästchens. Dann öffnete sie das Kuvert. Ein Brief und ein Bild befanden sich darin. Eine letzte Botschaft von Julianne, die sie bei Jinelle hinterlegt hatte, im Falle ihres Todes. Als ob sie es geahnt hätte. Der Brief war sehr emotional, Aegaria hatte ihn bereits bei Jinelle gelesen und las ihn nun nochmals. Langsam und Wort für Wort. Sie versuchte sich jeden einzelnen Satz zu merken. Anschließend steckte sie ihn zurück in das Kuvert und legte dieses ebenso in die Schublade. Sie würde später eine Schale holen, um den Brief zu verbrennen, auch wenn es ihr leid darum tat. Aber es war eine sinnvolle Maßnahme, denn niemand anders sollte je diesen Brief lesen können.

      Als Erinnerung blieb Aegaria das Bild, dass sie nun in die Hände nahm. Ein Selbstportrait von Julianne, kunstvoll gezeichnet mit Tusche. Für einen Moment überkam sie erneut der Schmerz des Verlustes. Sie seufzte leise, stand vom Bett auf und legte das Bild zu der Flasche mit dem Schiffchen, die sie von Arri bekommen hatte, auf dem Tisch ab. Sie würde einen kleinen Rahmen dafür besorgen, damit sie es aufstellen konnte. Zwei Erinnerungen an Freunde, die nun fort waren. Wobei sie sich recht sicher war, dass sie zumindest Arri wiedersehen würde.

      Aegaria ging zu ihrem Fenster und richtete den Blick nach draußen, auf die Stadt. Trotz des Verlustes gab es auch Gutes. Eine neue Bekanntschaft. Das Gespräch mit Jinelle ging nicht nur über Julianne, die ebenso eine Freundin Jinelles war, sondern auch um andere Themen. Es war ein schönes Gespräch, ruhig in angenehmer Atmosphäre und die beiden hatten vereinbart, sich wieder zu treffen. Sie freute sich schon darauf, auch wenn es sicherlich noch ein paar Tage dauern würde. Denn irgendetwas in ihrem Hinterkopf sagte ihr, dass unruhige Zeiten aufkamen.
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    • Familien


      Es klopfte laut an der Tür zu Aegarias Zimmer. Sie schreckte auf und legte die Feder zur Seite. Es war mehr Zeit vergangen, als sie erwartet hatte, denn die Sonne stand bereits tief am Himmel und würde bald untergehen. Das Mädchen öffnete die Tür. Eine Wache stand davor und eröffnete sogleich das Wort: „Zieh dich ordentlich an und komm zur Wohnung der Gräfin. Sofort!“
      „Ja“, meinte Aegaria schlicht und schloss die Tür, um sich umzuziehen. Etwas Ordentliches? Sie nahm das Kleid vom Winterball und zwängte sich hinein. Mittlerweile hatte sie etwas Übung, um den Reißverschluss auf dem Rücken zu schließen.

      „Xellesa wurde gefunden und wird hierhergebracht“, erklärte Tsatsuka, als sie schließlich angekommen war. Mendred saß an ihrem Arbeitstisch und beobachtete. „Ich will, dass du dabei bist.“
      „Ja, Herrin“, erwiderte Aegaria ordnungsgemäß. Ihre Überraschung versteckte sie hinter einer ergebenen Miene, denn sie hatte Xellesa noch nicht zurückerwartet. Eigentlich war sie davon ausgegangen, dass sie wissen würde, wenn die verschollene Frau zurückkehrte.
      Leyla und Erijon waren bereits anwesend und auch Khaled kam zur Tür herein. Somit war das Empfangskomitee vollzählig. Die Nervosität in dem Raum war für Aegaria deutlich spürbar. Erijon und Leyla freuten sich und waren aufgeregt, ihre Mutter nach so langer Zeit wieder zu sehen. Die Gräfin war schwerer einzuschätzen, aber auch bei ihr stellte sie eine Spur von Unruhe fest. Die beiden Männer hingegen konnte sie weniger einschätzen. Bei Khaled fehlte ihr die Bindung, die sie jedoch auch nicht aufzubauen bereit war und Mendreds Geist schien umwölkt von vielen Gedanken.

      Während die Gräfin, Khaled und Mendred miteinander sprachen, setzte sich Aegaria zu Leyla und Erijon. Sie sprach ein paar beruhigende Worte, um den Kindern die Nervosität zu nehmen. Als es soweit war und die Wache das Eintreffen ankündigte, raste Khaled förmlich zur Tür und Tsatsuka verärgert hinterher. Innerlich schüttelte Aegaria den Kopf über den Umstand, dass selbst eine so einfache Geste, wie das Türöffnen, zum Wettbewerb wurde und sie bemerkte, dass sie den Familienmitgliedern Raum geben sollte. Darum stand sie auf und stellte sich so hin, dass sie von der Tür aus nicht zu sehen war. Sie lehnte sich an die Wand und verschränkte die Arme. Den Blick hielt sie auf Mendred gerichtet. Nach einem kurzen Moment materialisierte sich ein dünner, schwarzer Faden. Ein Ende legte sich an Mendreds Kopf, das andere strich Aegarias linken Arm hinaus bis zur Tätowierung am Oberarm.

      Aegaria roch den Duft von Blumen und Gras. Die Sonne schien hell, das Blau des Himmels nur von kleinen Schönwetterwölkchen unterbrochen. Auf der Wiese waren Mendred und Tsatsuka, beide recht einfach gekleidet. Sie knieten auf einer Decke, die im Gras ausgebreitet war. Er sprach ein paar Worte, die Aegaria nicht verstehen konnte und Tsatsuka lachte. Die beiden wirkten glücklich. Ein Kleinkind erschien auf der Decke, wackelig auf den Beinen, die Arme balancierend ausgestreckt. Unsicher ein Bein vor das andere setzend überwand es den halben Meter bis hin in Tsatsukas Arme. Die Gräfin küsste das Kind auf den Kopf und drehte es herum, sodass es zu Mendred blickte. Nun breitete er die Arme aus. „Komm her zu Papa, Luna.“

      Aegaria musste blinzeln, als sich das innere Bild auflöste. Khaled, Xellesa, Leyla und Erijon waren jetzt zusammen und sprachen miteinander. Selbst Tsatsuka hatte ihnen das Feld überlassen und unterhielt sich mit Mendred. Als er das Thema gemeinsame Kinder ansprach, lächelte Aegaria. Nun war ihr bewusst, was die Vision geradeeben bedeutete und sie freute sich. Obwohl sie die Gräfin nicht sonderlich mochte, hatte sie gesehen, wie glücklich Mendred wirkte und das war ein ausreichender Grund zur Freude.
      „Es wird ein Mädchen“, verriet sie den beiden. Beinahe hätte sie auch den Namen genannt, doch dann wurde ihr bewusst, dass sie es vielleicht gar nicht wissen wollten. Die Überraschung war sowohl Mendred als auch Tsatsuka anzusehen, doch er erholte sich schneller davon und meinte, dass es dann auch ein zweites Kind, einen Jungen, geben müsse.

      Zwei Familien. Beide glücklich? Aegaria trat aus dem Schatten der Wand hervor, um sich Xellesa zu zeigen. Und für einen Augenblick konnte sie wirklich glauben, dass sie eine intakte, fröhliche Familie vor sich sah. Im selben Augenblick taten ihr die Kinder, aber auch Xellesa leid, denn sie spürte, wie Khaled die drei einlullte. Sie konnte sich nicht an die Vergangenheit erinnern und er wollte es ausnutzen, indem er den besorgten Vater und führsorglichen Ehemann gab. Aegaria atmete innerlich durch. Es war an der Zeit, etwas Wahrheit ins Spiel zu bringen.

      Gute zwei Stunden später war Aegaria zurück in ihrem Zimmer. Sie hatte Xellesa in ihre Räumlichkeiten gebracht und sie nochmals vor Khaled gewarnt, sie aber ebenso ermutigt, Zeit mit Leyla und Erijon zu verbringen. Anschließend hatte sie noch Leyla besuchen müssen, denn beinahe hätte sie vor den Ohren der Kinder erzählt, dass Khaled vor einigen Jahren versucht hatte, Aegaria zu vergewaltigen und erst im letzten Moment innegehalten. Dennoch war Leyla skeptisch geworden. Doch sie hatte die Neugierde des Mädchens stillen können, ohne ihr die ganze Wahrheit erzählen zu müssen, aber auch ohne sie anzulügen. Eines Tages würde sie mit Leyla darüber sprechen, aber nicht jetzt und schon gar nicht heute. Sie soll sich über die Rückkehr ihrer Mutter freuen.

      Das Papier mit den Notizen lag noch am Schreibtisch neben der schwarzen Schale, genauso wie sie es zurückgelassen hatte. Die Tinte auf der Feder war längst eingetrocknet. Aegaria räumte das Schreibzeug weg, denn heute würde sie sich nicht mehr daransetzen.
      "Japan ist ein wenig so wie Österreich: da hast du erstens das Meer..." 8o
    • Gäste, Teil 1


      „Aegaria, der Graf erwartet dich“, sprach die Wache, die bei ihr stand, kaum, dass die Tür zum Anwesen geschlossen war, nachdem Jinelle de Sculpare gegangen war. Das angesprochene Mädchen wandte sich der Wache zu, die Gedanken noch gänzlich wo anders.
      „Jetzt?“, fragte sie. Doch sie schüttelte gleich den Kopf. „Natürlich jetzt, sonst hättest du es nicht gesagt.“
      Die Wache nickte zustimmend und deutete in die Richtung des Schreibzimmers des Grafens. Ein unmissverständlicher Hinweis, dass sie sich besser beeilen sollte. Dabei hatte sie heute Morgen noch nicht einmal Zeit gefunden, sich zu waschen. Mit wenigen Handgriffen prüfte sie zumindest den Sitz ihrer Haare, bevor sie losging.

      „Ja!“, kam es forsch aus der Schreibstube, als Aegaria anklopfte. Sie öffnete die Tür und trat ein. „Mein Herr, Ihr habt nach mir geschickt?“
      Der alternde Graf legte die Schreibfeder zur Seite. „Du hattest über Nacht Besuch?“
      „Ja, mein Herr.“ Aegaria schluckte. Natürlich wusste er davon, doch dass er sie direkt darauf ansprach, machte sie nervös. Sie riss sich zusammen, denn sie hatte strenggenommen nichts getan, das ihr verboten war.
      „Du wirkst beunruhigt“, stellte Phineas Gaius Ceos schlicht fest. Er kannte die junge Frau seit vielen Jahren und wusste ihre Mimik und Gestik einzuschätzen. Doch diese Kenntnis beruhte auf Gegenseitigkeit und Aegaria erkannte, dass er verärgert war. Nicht wütend, aber verärgert. Das größere Problem war, dass sie nicht wusste, was sie antworten sollte. Also blieb sie still und nickte lediglich. Der Graf lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. Seine Augen blieben hart, sein Blick wurde hingegen nachdenklich.
      „Warum bist du beunruhigt?“
      „Ich habe Euch verärgert, mein Herr, das kann ich erkennen. Ich weiß aber nicht wieso“, entgegnete sie. Es war nahe genug an der Wahrheit. Sie wusste wirklich nicht was genau der Grund war, auch wenn sie Vermutungen hatte.
      „Wieso?“, er hob die Augenbrauen an. „Da gibt es eine Menge Gründe, meine Liebe. Setz dich.“

      Aegaria kam der Aufforderung sofort nach und nahm am Stuhl auf der ihm gegenüberliegenden Seite des Schreibtisches Platz. Sie wurde etwas blasser im Gesicht und ihre Hände fingen zu zittern an. „Mein Herr?“
      Phineas lehnte sich vor, stützte die Arme auf dem Tisch ab und fasste sie genau ins Auge.
      „In den letzten Monaten wurden deine Voraussagen seltener. Anfangs dachte ich, dass du vielleicht kurzzeitig etwas abgelenkt bist, doch in den vergangenen Wochen habe ich dich genauer beobachtet. Es sind viele Dinge passiert, die du nicht vorhergesehen hast. Allen voran Xellesas Rückkehr. Noch vor einem halben Jahr hättest du mir ihre Ankunft eine Woche vorher angekündigt. Oder Khaleds Versuche Mendred auszustechen.“
      Die Worte des Grafen waren wahr und so konnte Aegaria nichts Anderes tun, als schuldbewusst nicken, doch das war offensichtlich nicht ausreichend. Phineas wollte mehr von ihr wissen. „Warum ist das so?“
      „Ich weiß es nicht, mein Herr“, erwiderte sie und senkte den Blick. Sie konnte ihn nicht ansehen, als ihr diese Lüge über die Lippen kam. Es schmerzte sie beinahe körperlich, doch die Wahrheit konnte sie ihm nicht sagen. Sie konnte nicht sagen, dass sie absichtlich weniger Gebrauch von ihren Fähigkeiten machte, weil es ihren geistigen Zustand besserte. Denn das kam einer Arbeitsverweigerung nahe. Doch die Ausrede verärgerte den Grafen noch mehr.

      „Du weißt es nicht?“, sprach er nun lauter. „Wie kann man das nicht wissen?“
      „Ich kann nicht einfach sehen, mein Herr, das wisst Ihr. Visionen kommen von alleine oder eben nicht und in letzter Zeit hatte ich weniger Visionen.“
      „Sehr wenige“, meinte er zustimmend und schüttelte leicht den Kopf. „Zu wenige. Was bringt mir eine Wahrsagerin, die nichts sagt, die keine Visionen hat?“
      Sie wollte Einspruch erheben, doch er ließ sie nicht zu Wort kommen. „Du kostest ein kleines Vermögen. Du lebst in diesem Haus, hast dein eigenes, warmes Zimmer, du bekommst zu essen – gutes Essen, keinen billigen Fraß -, du bekommst Kleider und dann ist da noch deine Medizin, die alleine schon mehr kostet als ein Stallbursche! Und dann was? Dann kannst du plötzlich deine Aufgaben nicht mehr erfüllen und weißt nicht einmal warum?“
      „Es tut mir leid, mein Herr.“
      „Von Entschuldigungen kann ich mir nichts kaufen! Weißt du, ich mag dich eigentlich. Du bist immer ehrlich zu mir gewesen, du stelltest wenig Forderungen und ich schätze deinen Rat. Ich mag es aber nicht, wenn du mich hintergehst! Wenn du nicht versuchst, deinen Aufgaben gerecht zu werden oder die aufgestellten Regeln brichst. Eigentlich müsste ich dich rauswerfen.“
      Aegaria hörte der Schimpftirade zu. Sie nahm jedes Wort regungslos auf, doch der letzte Satz versetzte ihr einen Stich, sodass sie leicht zusammenzuckte.
      „Warum?“, wollte sie wissen. Natürlich war ihr bewusst, dass die Anschuldigung auch Konsequenzen haben konnten, aber gleich rausgeworfen zu werden, das hätte sie nicht vermutet.

      „Weil ich wie ein verdammter Tor dastehe, wenn ich mir gefallen lasse, dass du auf meiner Nase herumtanzt.“ Zur Unterstreichung schlug er mit der flachen Hand auf den Tisch und sie zuckte erneut zusammen. Ihre Augen wurden feucht. Wenn sie jetzt des Hauses verwiesen werden würde, würde eine Welt für sie zusammenbrechen. Also brachte sie allen Mut auf, den sie finden konnte. „Ich habe keine Regeln gebrochen und Euch auch nicht hintergangen!“
      „Nein?“, er lachte kurz freudlos. „Seit wann ist dein Zimmer denn ein Gästezimmer? Und ich sehe vielleicht nicht mehr so gut, aber meine Nase ist nicht beeinträchtigt. Du riechst anders und zwar nicht nur nach dir. Hängt damit alles zusammen, hm? Fickst du die jungen de Sculpare und hast du darum deine Fähigkeiten eingebüßt? Und dann besitzt du nicht einmal den Anstand, sie vorzustellen, wenn sie zu Besuch kommt.“
      „Nein!“, stieß Aegaria laut aus. „Das stimmt nicht und ich habe meine Fähigkeiten nicht verloren, das kann ich beweisen!“
      Zumindest letzteres entsprach vollkommen der Wahrheit. Und sie hatte zwar mit Jinelle Zärtlichkeiten ausgetauscht und die Nacht im selben Bett verbracht, doch richtiggehend mit ihr geschlafen hatte sie nicht und somit auch nicht ihre diesbezügliche Anweisung missachtet. Genaugenommen war diese sogar der Grund, warum sie in dieser Nacht ihrer Neugierde nicht weiter nachgegeben hatten. Außerdem war es Unsinn, dass das irgendetwas mit ihren Fähigkeiten zu tun hatte. Woher auch immer das kommen mochte.
      „So? Dann beweise es.“
      „Tsatsuka und Mendred bekommen ein Mädchen, ich habe es gesehen.“ Es tat ihr leid, die Worte jetzt schon aussprechen zu müssen. Lieber hätte sie es zuerst Mendred erzählt und sie wollte eigentlich warten, bis er wieder hier war.
      „Wann?“
      „Sie ist bereits schwanger. Seit zwei, drei Wochen, bevor Mendred abgereist ist.“

      Tatsächlich zeigten die Worte Wirkung. Der Graf lehnte sich wieder zurück und atmete tief durch. Er wirkte sogar erleichtert. „Und du lügst mich nicht an?“
      „Nein, mein Herr.“
      „Endlich…“, sprach er aus, den Blick an die Decke gerichtet. Sie wusste nicht, was er damit genau meinte. Dass ein Kind aus der Verbindung hervorging oder dass sie eine Vorhersage kundtat. Sie nutzte den Moment, um selbst nochmals durchzuatmen und sich zu beruhigen. Vielleicht war doch noch nicht alles verloren.
      „Du hast Glück. Da ich bald zurücktrete, werde ich nicht mehr über dein Schicksal entscheiden, sondern überlasse es meinem Nachfolger, den ich über deine Taten jedoch genauestens unterrichten werde. Und jetzt geh und schrubbe den Geruch von deinem Körper, bevor noch das ganze Haus weiß, was du treibst.“
      Natürlich konnte der Graf es nicht wirklich riechen, doch seine Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Sie wollte schon erwidern, dass sie gar nichts trieb, doch im Moment war es für sie besser, das Angebot zur Flucht anzunehmen. Sie stand auf. „Mein Herr!“
      Und mit diesen Worten verließ sie die Schreibstube und ging nach oben, um ein Bad einzunehmen.

      Das warme Wasser umspülte ihre Haut und Aegaria schloss die Augen. Endlich ließ das Zittern ihres Körpers nach, das von dem Gespräch mit dem Grafen zurückgeblieben war. Es war unangenehm gewesen, doch das Ende besser als sie erwartet hätte. Der Graf übertrug die Verantwortung über sie schon jetzt an Mendred und wenn Mendred erst einmal Graf war, würden ihre Sorgen sich auflösen. Sie lächelte und befreite ihren Kopf von jeglichen Gedanken.
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    • Gäste, Teil 2


      Aegaria zog das Räucherstäbchen aus der Halterung heraus. Es war schon vor einigen Stunden abgebrannt und der ätherische Duft hing nur noch leicht in der Luft. Sie ging zu ihrer Sitzecke und suchte sich aus der Schale mit Erdbeeren eine heraus. Die Auswahl war nicht mehr groß, nachdem sie Heather einige mitgegeben hatte. Doch das war in Ordnung so, sie konnte ja aus der Küche noch ein paar weitere holen, da sie so oder so bald aufgegessen werden mussten. Die Früchte kamen von recht weit her und würden vielleicht noch ein oder zwei Tage halten, bevor sie zu matschig wurden. Angeblich wurden sie ja frühreif gepflückt und erreichten die volle Reife erst auf der Reise. So wirklich konnte Aegaria das jedoch nicht glauben. Sie steckte sich die Erdbeere in den Mund.

      Es war ein eigenartiger Tag gewesen, voller Hochs und Tiefs. In der Früh, beim Frühstück mit Jinelle war sich noch glücklich gewesen, das anschließende Gespräch mit ihrem Herrn hatte ihre Stimmung jedoch stark getrübt, während ihre Laune sich besserte, je mehr sie darüber nachdachte. Und abends kamen schließlich Leyla und auch Heather zu Besuch. Sie hatte sich sehr darüber gefreut, denn sie mochte die beiden. Leyla ging es offensichtlich gut. Sie genoss ihr neues Training und freute sich, dass ihre Mutter wieder im Haus war. Heather hingegen…
      Aegaria runzelte die Stirn. Es war ihr schwergefallen, die Stimmung der Sängerin einzuschätzen. Sie hatte von ihrem Verlust erzählt und auch von einem Freund, der in einer fiebrigen Krankheit lag. Doch immerhin hatte sie jetzt eine Arbeit gefunden, in der sie sich beweisen kann. Leyla hatte Heather auch zu ihrem Geburtstag eingeladen. Sowohl als Gast, als auch zur Unterhaltung, damit sie ihrer Kunst des Singens nachgehen konnte. Aegaria überlegte, sich auf das Sofa zu setzen, doch entschied sich dafür, dass es eigentlich Zeit zum Schlafengehen war, also machte sie sich fürs Bett bereit.

      Wasser! Überall war salziges, kaltes Meerwasser. Aegaria schreckte auf und schnappte nach Luft, bevor die nächste Welle wieder über sie schwappte. Sie wollte schreien, doch konnte es nicht. Panik erfasste sie, denn sie konnte nicht schwimmen. Sie schlug mit den Armen um sich, strampelte mit den Beinen, doch es half nichts. Das Meer zog sie unerlässlich in die Tiefe und es wurde immer dunkler, bis es stockfinster war. Sie hatte das Gefühl, ertrinken zu müssen, dennoch blieb ihr die Luft nicht weg. Es war kalt. Und windig.

      Aegaria versuchte etwas zu erkennen, doch es gab nur ein kleines Glitzern in der kalten Dunkelheit. Ein Glitzern, dass von einem nassen Stein kam. Sie war in einer Höhle eingeschlossen und ihr Körper fühlte sich an, als hätte sie einen einwöchigen Gewaltmarsch hinter sich gebracht. Jede Muskelfaser schmerzte, die Haut im Gesicht brannte von dem Meeressalz, die Lippen waren spröde und ausgetrocknet. Und sie hatte Durst, schrecklichen Durst. Langsam bewegte sie sich auf den glitzernden Felsen zu. Scharfe Kanten schnitten sich in ihre nackten Fußsohlen. Sie glaubte, sie würde eine Spur aus Blut sehen, wenn sie sich umdrehte. Ihr Blut. Es wurde etwas heller, silbriges Mondlicht fiel durch ein Loch in der Höhlendecke. Sie blickte nach oben und stolperte.

      Unaufhaltsam kam der Boden näher. Noch mehr Steine und Felsen. Aegaria streckte ihre Arme nach vor, um den Sturz abzufangen, doch bevor sie mit der Nase auf dem harten Boden aufschlug, wurde sie gebremst. Sie schwebte und er Boden löste sich in sanfte Wellen auf. Der Stein wurde zu Wasser. Als es sich beruhigte, erkannte sie im Mondlicht ihr Spiegelbild auf der Wasseroberfläche: kupferfarbene, eher kurz geschnittene Haare, stahlblaue Augen und eine Gesichtsform, die sie an eine andere Person erinnerte.

      „Arri!“ Aegaria richtete sich ruckartig in ihrem Bett auf. Die Augen tränenfeucht. Das Mondlicht erhellte ihr Zimmer, denn sie hatte vergessen, den Vorhang zuzuziehen. Die Bilder des Traums verblassten langsam.
      „Arri…“, wiederholte sie nun leiser. Mit ihrer Freundin ist etwas passiert und sie wusste nicht was. Sie strengte sich an, um die Eindrücke wiederzuholen und sie konzentrierte sich auf Arris Erscheinungsbild, ihre Stimme, ihre Gesten und ihre Mimik, auf jedes Element, das sie an die junge Seefahrerin erinnerte. Aegarias Haut wurde an den Stellen, die mit Hautbildern überzogen waren, heiß. Sie streckte ihre Fühler aus, sich vollkommen bewusst, was der Einsatz ihrer Fähigkeiten kosten mochte, doch das war ihr in diesem Augenblick vollkommen gleichgültig. Sie nahm die Fäden wahr, die sich zwischen all den Dingen in ihrem Zimmer zogen. Sie blickt zu ihrem Schreibtisch, zu dem Schiffchen in der Flasche und folgte dem Faden dorthin. Sackgasse.

      Die Seherin schnappte nach Luft. Es konnte nicht sein. Es konnte nicht sein, dass es keine Verbindung mehr gab. Sie sprang aus dem Bett und schnappte sich das Souvenir, das sie von Arri geschenkt bekommen hatte und hielt es fest in der Hand.
      „Nein, nein, nein, Arri!“, stammelte sie und nun liefen ihr die Tränen über das Gesicht. Sie schloss die Augen. Wo war ihre Freundin? Was ist geschehen? Ist sie ertrunken? Warum spürte sie ihre Präsenz nicht mehr an dem Geschenk.
      Eine federleichte Berührung an ihrer Hand ließ sie nochmals Aufblicken. Da war er! Ein seidener, hauchdünner Faden, der nach Westen führte. Weg von Calpheon, weg von der Küste bis ins Meer hinein, bis zu Arri. Sie war am Leben, gerade so! Doch sie war alleine, hilflos. Trotzdem war Aegaria erleichtert. Arri lebte. Sie wischte sich das Gesicht ab und legt sie wieder nieder. Das Flaschenschiffchen weiter in der Hand haltend. Sie musste herausfinden, wie sie ihrer Freundin helfen konnte. Sie musste einen Blick in die Zukunft bekommen.
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    • Verrat


      Nebelschwaden durchzogen den Wald. Die Sonne war in den frühen Morgenstunden noch hinter dem Horizont und nur die Dämmerung spendete ein wenig Licht. Es war kühl und ruhig. Die Fauna schlief noch, genauso wie Mendred, Erijon, Parseval und die Männer der neu gebildeten Wolfsgarde. In der Mitte der Lichtung war das Lagerfeuer bereits ausgebrannt und rauchte nur noch schwach vor sich hin. Der Wachhabende streckte sich und freute sich schon darauf, bald seine wohlverdiente Rast zu bekommen. Dabei rasselte leise seine Rüstung.

      Schwarz gekleidete Reiter schnellten durch den Wald. Die Bäume flogen links und rechts an ihnen vorbei. Nebelschwaden wurden zerrissen. Sie wussten genau, wohin sie wollten und trotz ihrer Schnelligkeit bewegten sich die Pferde lautlos. Mit jedem Schritt wuchs die Bedrohung, die von ihnen ausging. Plötzlich wurden sie langsamer und hielten an. Die Reiter stiegen von den Pferden und schlichen zu der Waldlichtung, die sich vor ihnen zeigte. Männer schliefen in Feldbetten, nur eine einzige Wache streckte sich gerade an der bereits erloschenen Feuerstelle.

      Der Wachhabende legte sein gezogenes Schwer von einem Bein auf das andere. Das kühle Metall war bereit, jederzeit gegen eine Bedrohung vorzugehen. Hinter dem Mann materialisierte sich ein schwarzer Schatten. Mit einem Dolch holte der Schatten aus und stach der Wache in den Hals. Die zweite Hand legte sich auf den Mund, um den gequälten Aufschrei zu ersticken, bis das Leben aus dem Körper gewichen war. Die Waffe der Wache rutschte unbenutzt zu Boden.

      Andere Schatten bildeten sich bei den Feldbetten. Sie hatten ihre langen, dünnen Schwerter gezogen und die Spitze nach unten auf die ahnungslosen Männer der Wolfsgarde gerichtet. Als wären die Schatten eine einzige Person, stießen alle gleichzeitig zu. Die Klingen durchbohrten die Brüste der Schlafenden. Der Schmerz weckte sie, nur um sie in die Umarmung des Todes zu übergeben. Augen weiteten sich, ein See aus Blut benetze den bewaldeten Boden und die Schatten lösten sich auf. Zurück blieben die aufgespießten Körper und die Schwerter auf dessen Griffstück jeweils ein Löwenkopf prangte.
      Der Nebel wurde dichter und sperrte das wenige Dämmerlicht aus, bis der schreckliche Ort von Finsternis und dem Geruch des Todes umgeben war.

      Aegaria schreckte aus dem Schlaf auf. Sie hatte eine Vision, doch die Erinnerung daran drohte bereits zu verblassen, so flüchtig war sie. Ihre Brust schmerzte, als wäre sie von einem Schwert durchbohrt worden, doch auch dieses Gefühl verging rasch. Sie konzentrierte sich und versuchte das Gesehene wiederzuholen. Einzelne Bilder blitzten durch ihren Geist. Der Löwe, die von Klingen durchstoßenen Leiber der Wolfsgarde, die lautlosen Schatten. Ein Akt aus Dunkelheit heraus. Verrat.
      Sie schwang die Beine aus dem Bett und erhob sich. Die Dämmerung brach gerade erst an. Aegaria konzentrierte sich auf Mendred. Er lebte noch, das wusste sie, aber ebenso war etwas passiert und sie hatte es nicht vorausgesehen. War es gerade erst jetzt geschehen oder in der Nacht oder schon vor Tagen? Sie war sich nicht sicher. Doch sie musste es dennoch weitergeben.

      Mit dem Nachthemd bekleidet huschte sie aus ihrem Zimmer. Ihre nackten Fußsohlen bewegten sich lautlos über den Fußboden. Verrat! Wem konnte sie jetzt noch trauen? Sie ging an der fragend blickenden Wache vorbei und verließ das Haupthaus. Die Kälte kroch sofort unter das seidene Nachthemd, doch zum Nebenhaus waren es nur wenige Meter.

      „Ich muss sofort mit der Gräfin sprechen!“, erklärte sie dem Mann der das Nebenhaus bewachte. Er sah den Ernst in ihrem Blick und öffnete ohne zu fragen die Tür. Aegaria huschte hinein, klopfte am Schlafzimmer, doch sie konnte nicht warten und trat in den dunklen Raum. Das Weiß in Tsatsukas Augen spiegelte das wenige Licht wider. Sie würde wohl den Vater ihres Kindes nicht verraten?
      „Herrin! Mendred, Erijon und die Wolfsgarde wurden überfallen!“
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    • Tod


      Dunkle Wolken schluckten das Mondlicht, sodass es draußen stockdunkel war. Selbst die Lichtpunkte der Fackeln, die in der Ferne zu sehen waren, wirkten düsterer als sonst. Seufzend ließ Aegaria von dem Fenster ab und legte sich in ihr Bett. Es lag nicht nur am Herbst und dem kommenden Winter. Unheilvolle Dinge geschahen an diesen Tage in Calpheon und noch mehr würden geschehen, das sagte ihr jede einzelne Phase ihres Körpers.

      Das dumpfe Geräusch eines zu Boden fallenden Körpers weckte Aegaria. Sie lauschte und vernahm schleichende Schritte. Ohne einen Mucks von sich zu geben, schlüpfte sie aus dem warmen Bett. Sie huschte zu ihrem Schreibtisch, öffnete die Schublade. Sie hatte keine Waffen, doch eine stählerne Spitzfeder, die sie zum Schreiben ihrer Briefe verwendete. Die Tür zu ihrem Zimmer wurde aufgerissen und gleißendes Licht blendete die Wahrsagerin.
      „Hier ist die Hexe!“, sprach eine Person mit tiefer Stimme. Sie kam langsam näher. Aegaria blinzelte und versuchte etwas zu erkennen. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an das Licht, das ihr von einer hell lodernden Fackel entgegenstrahlte. Vor ihr stand ein gerüsteter Mann in den Farben der elionischen Kirche. Drohend zog er sein Schwert aus der Scheide und richtete die Spitze auf Aegarias Brust.
      „In Elions Namen nehmen ich dich fest, Hexe“, sprach der Inquisitor. „Versuche keinen Widerstand zu leisten.“
      Verschreckt nickte sie. Nun war es soweit, die Kirche tolerierte ihr Dasein nicht länger und das Haus Ceos konnte sie nicht mehr schützen. Der Mann sprach weiter auf sie ein, doch sie verstand seine Worte nicht. Vor ihrem inneren Auge sah sie zwei Frauen, die in einem Flammenmeer standen. Sie brüllten verzweifelt, doch das Feuer fraß sie auf. Das reinigende Feuer, wie es die Kirche behauptete. Wie arrogant. Es war nicht reinigend, sondern einfach nur tödlich. Und sie sollte den beiden Frauen in den Tod folgen. Aegaria zitterte am ganzen Körper.
      „Hast du verstanden!?“, fragte der Mann forsch nach.

      Die Haut der Wahrsagerin brannte. Doch es war kein Feuer von außen, sondern die Hitze kam von innen. Sie staute sich in ihr an und wollte über die Haut, über die Stellen, die mit schwarzer Farbe verziert waren, entweichen. Es war ein erhabenes Gefühl. Aegaria hörte zu zittern auf und sie wurde vollkommen ruhig. Langsam hob sie den Kopf um den Inquisitor vor ihr durch die Sehschlitze in die Augen sehen zu können. Sie sah Angst.
      Das Schwert des Mannes fiel klirrend zu Boden. Aus einem Loch im Hals quoll Blut und die Beine des Mannes brachen unter ihm weg. Die Schreibfeder hatte seine Kehle durchbohrt und ebenso die Nackenwirbel zertrümmert. Sie steckte nun wie ein Pfeil im Holz der Zimmerdecke. Ein Röcheln entfuhr dem Mann, dessen Körper gelähmt war. In wenigen Minuten würde er so viel Blut verloren haben, dass er sterben würde.

      Der Kumpane des Inquisitors, ein Mann in Priesterrobe, der mit der Fackel auf dem Gang vor ihrem Zimmer stand, riss die Augen auf und bekreuzigte sich. Dann ließ er die Fackel auf den Holzboden fallen und rannte um sein Leben. Aegaria verließ ihr Zimmer. Sie wusste nicht wie, doch sie wusste, dass sie den Inquisitor umgebracht hatte. Sie hatte aus der Schreibfeder einen tödlichen Pfeil geschaffen. Barfüßig trabte sie die Treppe hinab und erreichte das Foyer.

      Phineas Gaius Ceos, ihr Herr lag kopflos an der Wand. Sein Haupt einige Meter weiter in einer Ecke. Mendred fehlte die Schwerthand und er hatte ein klaffendes Loch im Gesicht. Neben ihn lag Tsatsuka auf dem Bauch. Ihr Kleid verdeckte die Wunden, doch die Blutlache unter ihr zeigte deutlich, dass sie ebenso tot war. Luna-Sophie, die einjährige Tochter der beiden… Aegaria konnte nicht länger hinsehen. Neben den toten Familienmitgliedern waren die Wachen des Hauses, gefallen in einem Kampf. Sogar der Priester, der vor ihr geflüchtet war, hatte sein Leben gelassen. Gesichtslose, schwarz gekleidete Gestalten verließen das Haus durch die Tür. Sie bewegten sich lautlos wie Schatten, nur die Klingen ihre Dolche blitzen im Licht der Kerzen. Sie ließen Aegaria zurück. Allein inmitten von Leichen. Und oben hörte sie bereits das sich ausbreitende Feuer knistern.

      Keuchend schreckte Aegaria auf. Sie brauchte einige Momente, um sich zu orientieren. Sie lag in ihrem Bett und es war stockdunkel, mitten in der Nacht. Schwarze Fäden führten von überallher zu ihr. Die Fäden wurden dünner und dünner bis sie abrissen, doch der Nachhall der Vision war geblieben. Sie musste sofort weg, sonst würde sie den Tod über das Haus bringen. Das Mädchen hüpfte aus dem Bett, öffnete ihren Schrank. Sie nahm ihren Seesack heraus und stopfte ihre Kleidung sowie ihren Silberbeutel hinein. Von ihrem Schreibtisch nahm sie die Flasche mit dem Schiffchen und das Bild von Julianne und gab beides in den Seesack. Sie öffnete die Schublade, um ihr Schreibzeug zu nehmen, doch sie fand nur Papier und die Tinte. Sie steckte beides ein und verschnürte den Seesack. Im Vorbeigehen schnappte sie sich noch ihre Schuhe.

      Barfuß lief Aegaria die Treppe hinunter. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie das Foyer erreichte. Doch außer ihr war niemand hier, keine Leichen und keine schwarzen Männer. Sie blieb kurz stehen, um ihre Schuhe anzuziehen, hing sich den Seesack um und lief zur Tür. Sie riss sie auf und hastete weiter über das Grundstück bis zum Eingangstor. Es war nur angelehnt. Sie schlüpfte hindurch auf die Straße. Aegaria musste einen Weg aus der Stadt finden.
      Der Schein einer Fackel näherte sich von der Querstraße. Schnell verdrückte sich Aegaria in einer Mauernische. Sie hörte Schritte die Straße hinaufkommen und dazu das auffällige Klappern einer Rüstung. Als die Schritte verstummten, wagte sie einen kurzen Blick: ein gerüsteter Mann in Begleitung eines Robenträgers, der die Fackel hielt, öffnete das Tor zum Ceos-Anwesen. Aegaria wartete noch einen Augenblick, dann machte sie sich wieder auf den Weg.

      Sie brauchte zwanzig Minuten, um das nächste Stadttor zu erreichen und nochmals eine halbe Stunde, bis sich durch die Ankunft eines Fuhrwerks die Gelegenheit ergab, ungesehen die Stadt zu verlassen. Zu ihrem Glück waren die Wachen mehr daran interessiert, niemanden unbemerkt hineinzulassen. Sie schlich eine Weile durch die Sträucher am Ufer des Demi, bevor sie auf die Straße zurückkehrte. Die frische Luft ließ sie frösteln. Aus ihrem Beutel fischte sie ihre Jacke und zog sie über das Nachthemd, das sie noch immer trug. Sie hatte es geschafft. Jetzt musste sie nur noch überlegen, wohin sie wollte, dann konnte sie bei Tagesanbruch eine Kutsche aufhalten und sich fahren lassen. Silber hatte sie genug bei sich, doch sie hatte das leise Gefühl, etwas vergessen zu haben. Etwas Wichtiges.
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    • Flucht


      Die Morgendämmerung brach an. Aegaria saß zitternd auf einem Stein am Wegesrand, als sie die Geräusche von Pferden und einem Wagen, dessen Holzräder über den Schotter des Weges rumpelten, vernahm. Etwas über eine Stunde hatte sie warten müssen. Länger als sie wollte, kürzer als sie befürchtet hatte. Die junge Frau stand auf, schulterte ihren Beutel und stellte sich auf den Weg. Sie hob eine Hand. Der Wagenführer, ein älterer Mann mit einem langen Bart, stoppte die beiden Pferde.
      „Guten Morgen“, grüßte er freundlich, aber mit einem starken Dialekt. Gleichzeitig huschten seine Blicke zu allen Seiten, als erwartete er einen Überfall. „Was macht eine junge Dame um diese Zeit hier?“
      „Guten Morgen“, erwiderte Aegaria. „Sie sucht eine Mitfahrgelegenheit. Und bezahlt auch dafür.“
      Der Mann zögerte einige Augenblicke und erneut sah er sich um. Das Misstrauen war ihm ins Gesicht geschrieben. Dann schüttelte er bedauernd den Kopf.
      „Das ist kein Wagen für eine junge Dame“, meinte er und sein Blick wurde bekümmert. „Geht nach Calpheon, Ihr erreicht die Stadt in nicht einmal einer halben Stunde und dort findet Ihr einen richtigen Kutscher.“
      Der Mann straffte die Zügel.
      „Wartet, bitte!“ Aegaria stellte sich ihm direkt in den Weg. Ein schwarzer Faden knüpfte sich zwischen ihm und ihrem Arm. Sie wollte die Augen schließen, doch das würde den Kutscher nur noch mehr irritieren. Trotzdem konnte sie einiges wahrnehmen, denn seine seelische Wunde war wie ein Leuchtfeuer. Er hatte jemanden verloren, bei einem Überfall auf seinen Wagen. Jemand, der ihm nahestand.

      Die Erinnerungen prasselten auf Aegaria ein, wie ein stürmischer Regen. Viel heftiger, als sie erwartet hatte. Sie sah den Mann, ein paar Jahre jünger und neben ihm ein Mädchen, vielleicht vierzehn oder fünfzehn Jahre alt. Er rauchte eine Pfeife und sang ein Lied. Die Sonne schien vom Himmel und das Mädchen lachte, als der Wagen über eine Unebenheit holperte und seine Stimme dabei einen kurzen Aussetzer machte.
      Plötzlich stand der Wagen und alle Fröhlichkeit war verschwunden. Die Hände des Mannes waren mit Seilen gefesselt und sein Bart blutverschmiert. Ein Auge stark geschwollen, das andere matt vor Traurigkeit. Der Wagen war geplündert.
      „Marie“, brüllte der Mann. „Wo bist du? Marie?“
      Immer wieder rief er den Namen, seine Stimme krächzte bereits. Doch niemand antwortete. Sie hatten alles mitgenommen: seine Waren, die Pferde, sein Silber. Doch all das verblasste, denn sie hatten auch seine Tochter mitgenommen. Nur die Fetzen ihres Kleides lagen auf dem Boden. „Marie…?“

      Aegaria keuchte. Das hatte sie nicht erwartet. So viel Schmerz, tief in seinem Inneren aber dennoch so lodernd.
      „Alles in Ordnung, junge Dame?“, fragte der Mann besorgt nach. Er war deutlich zu sehen, wie er mit sich rang.
      „Bitte nehmt mich mit, ich kann nicht zurück“, flehte Aegaria ihn an. Der Mann strich sich durch den Bart, dann beugte er sich vor und reichte ihr eine Hand. „Na kommt. Wohin soll es denn gehen?“
      Sie ergriff seine Hand und spürte, wie er kurz zuckte, als er die Hitze ihres Körpers spürte. Sie setzte sich auf die Bank neben ihn und nannte das Ziel.
      „Ja, da komme ich sowieso vorbei“, meinte er und betrachtete sie noch einen Augenblick skeptisch. Dann trieb er die Pferde an und der Wagen holperte los. „Ich heiße Amudat und wer seid Ihr?“
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    • Wasser


      Der Wagen holperte über den ausgefahrenen Weg zur Delphe-Festung hinauf. Die Pferde schnauften. Die Festung war ein beeindruckendes Bauwerk, das von weither zu sehen war. Die Sonne erreichte bereits ihren Zenit als Amudat den Wagen anhielt.
      „Die Pferde haben sich eine Pause verdient. Und wir auch“, meinte er mit einem Dialekt zur Aegaria und zwinkerte ihr zu. „Ich habe etwas Trockenfleisch dabei.“

      Aegaria stieg von der Sitzbank und streckte sich. Dann nahm sie den Beutel mit ihren Habseligkeiten und hängte ihn sich um. Während Amudatsich um die Pferde kümmerte, vertrat sie sich die Beine und sah sich um. Die Sonne hatte den Dunst aufgelöst und der Ausblick war beeindruckend. Sie sah den Turm der Walkürenakademie in Calpheon, die große Windmühle des nördlichen Getreidegürtels und sogar die Burg Calpheon. Unter ihr toste der Demi durch die Schlucht.
      Es wäre ein schöner Tag gewesen. Doch irgendetwas in ihrem Hinterkopf stichelte und wehrte sich dagegen. Es erinnerte sie daran, dass sie etwas vergessen hatte, ohne so gefällig zu sein und ihr zu sagen, was es war. Außerdem störte sie irgendetwas an dem Namen des Wagenführers. Amudat, als hätte sie den Namen schon einmal gehört. Vor langer, langer Zeit.

      „Na, genießt Ihr den Ausblick?“, fragte Amudat und kam näher. Die Pferde grasten auf der anderen Seite des Weges und der Wagen war mit Keilen blockiert. Aegaria nickte, als er sich neben sie stellte. Eine sanfte, aber kühle Brise wehte ihr entgegen. Er hielt ihr ein Stück Trockenfleisch hin. „Hunger?“
      „Ja, danke.“ Aegaria nahm das Fleisch und biss davon ab. Es schmeckte etwas zu salzig, aber sie konnte nicht wählerisch sein. Einige Minuten standen sie kauend nebeneinander und ließen die Eindrücke auf sich wirken. Amudat hatte bereits aufgegessen und sah sie an.
      „Ihr seid eine zarte Blume, es tut mir leid“, murmelte er leise. Aegaria runzelte die Stirn, doch noch bevor sie fragen konnte, was er damit meinte, spürte sie einen starken Stoß gegen ihren Rücken. Sie wollte sich abfangen, aber vor ihr war kein Boden mehr. Nur die Schlucht, die der Demi über Jahrtausende in den Felsen geschnitten hatte. Sie versuchte das Unausweichliche noch irgendwie abzuwenden, doch die Schwerkraft gewann und Aegaria stürzte. Erschrocken kreischte sie auf.

      Im Fallen wurde sie herumgewirbelt. Gedanken und Bilder schossen ihr durch den Kopf. Erinnerungen an das letzte Jahrzehnt ihres Lebens. An all die Dinge, die sie getan und erlebt hatte. Doch nur ein Gedanke blieb bis zuletzt: warum hatte sie es nicht kommen gesehen?
      Mit dem Rücken voraus schlug sie auf die Wasseroberfläche. Obwohl ihr Beutel mit all den Kleidern den Aufprall dämpfte, spürte sie einen beißenden Schmerz durch ihren Körper gehen. Ihr Kopf wurde nach vor gerissen, als hätte ihr jemand mit einem Brett auf den Hinterkopf geschlagen. Ihr wurde Schwarz vor den Augen.

      Aegaria strampelte. Überall war Wasser. Vor ihr, unter ihr, über ihr. Sie sah nur schäumendes Wasser, sie wusste nicht mehr wo oben und wo unten war. Das Wasser war kalt und ihr ging die Luft aus. Sie versuchte sich mit allen Kräften zu wehren, doch es war vergebens. Sie hatte nie gelernt zu schwimmen. Reflexartig schnappte ihr Körper nach Luft, bekam jedoch nur Wasser. Panik griff um sie. Sie würde sterben. Sie wurde ermordet und sie hatte es nicht vorhergesehen. Aegaria atmete noch mehr Wasser ein und das Schwarz kehrte zurück. Es drängte sich vom Rand ihrer Wahrnehmung herein. Sie spürte ihre Arme und Beine nicht mehr und hörte auf, wild um sich zu schlagen. Das Wasser war überall. Es lag wie Blei auf ihrer Brust. Sie zuckte noch einmal, dann gewann das Schwarz.


      Amudat seufzte. Er war betrübt und erleichtert zugleich. Erleichtert darüber, dass er wirklich verschleiert war und Aegaria nicht gesehen hatte, was er tun musste. Betrübt, weil ihm die junge Frau leidtat. Er sah, wie ihr Körper auf die Wasseroberfläche traf und untertauchte. Das Echo ihres panischen Schreis verklang und zurück blieb nur das Brausen des Flusses. Er wandte den Blick ab und kehrte zu seinem Wagen zurück.
      Gegen Abend erreichte er Calpheon. Er ging in die nächste Taverne, bestellte sich einen Braten und einen großen Humpen Bier. Das Essen wollte ihm nicht so recht schmecken, doch das Bier tröstete ihn darüber hinweg. Er trank noch ein zweites, dann machte er sich auf den Weg zum Friedhof im Armenviertel. Seine Kontaktperson wartete schon auf ihn. Die Person war nicht sehr groß, in einen dunklen Mantel gehüllt und hatte die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Aus seiner Hosentasche kramte er eine Goldmünze hervor.

      „Es ist getan“, flüsterte er leise zu der Kontaktperson und reichte ihr die Münze mit der eigenartigen Prägung zurück. Sie hatte ihm geholfen, den Hexer zu überzeugen, ihn mit dem schützenden Zauber zu belegen. Der Hexer hatte nicht eine einzige Frage gestellt, nachdem er die Münze gesehen hatte.
      „Gut“, erwiderte die Kapuzengestalt und reichte ihm ein Pergament. „Ihr findet Marie an dieser Adresse.“
      „Danke“, er griff nach dem Schriftstück, seinem Lohn. Die Kontaktperson ließ noch nicht los.
      „Den Namen Amudat verwendet Ihr nie wieder.“ Die Gestalt hob den Kopf und lilafarbene Augen blickten ihn an. Es war ein kalter, stechender Blick, der so gar nicht zu den feinen und blassen Gesichtszügen der Frau passen wollte. Er nickte und erhielt das Pergament. Die Frau wandte sich wieder dem Grab zu und er verließ den Friedhof.
      "Japan ist ein wenig so wie Österreich: da hast du erstens das Meer..." 8o
    • Erwachen


      Aegaria riss die Augen auf, hustete und spuckte dabei Wasser aus. Sie holte Luft, doch es war zu wenig. Gleißendes Licht blendete sie, aber ihr Blick war so trüb, dass sie nicht einmal erkennen konnte, woher das Licht kam. Erneut verkrampfte sich ihr Körper, als müsste sie husten, doch es quoll nur mehr Wasser aus ihr. Zuviel Wasser, zu wenig Luft. Das Licht wurde von der Dunkelheit vertrieben.

      Als die Seherin das nächste Mal erwachte, schmerzte ihr alles. Der Kopf dröhnte, als würde ein Schmied ihn als Amboss missbrauchen. Die Lungen brannten, als wäre dort das dazugehörige Feuer. Ihr Rücken fühlte sich an, als wäre er durch die Mangel gedreht worden. Das beißende Kribbeln in den Armen und Beinen ging dagegen unter. Sie stöhnte und öffnete vorsichtig die Augen. Aegaria blickte auf einen hölzernen Boden und einen Eimer, mit etwas Wasser darin. Ihr Kopf hing über den Rand der Liegefläche. Sie versuchte ihn anzuheben, doch sie war zu schwach.
      „Ruhig, Mädchen“, sprach jemand. Die Stimme war warm und etwas krächzend. Sie hörte Holz knarren und Schritte näherkommen. Eine Hand legte sich an ihre Stirn und hob den Kopf vorsichtig an. Ein Beistelltisch mit einem Polster wurde herangezogen und ihr Kopf darauf gebettet.
      „Schlaf noch etwas“, meinte die Stimme wieder. Etwas strich ihr über den Kopf. Aegaria fügte sich und schloss die Augen abermals. Für einige Zeit döste sie im Halbschlaf dahin, doch so recht wollte der Schlaf nicht kommen. Einerseits hielten die Schmerzen sie davon ab, andererseits fragte sie sich, was passiert war. Woher kamen die Schmerzen und wo war sie?

      „Was…?“, brachte Aegaria schließlich über die Lippen. Sie schaffte es den Kopf zur Seite zu drehen. Der Raum, in dem sie sich befand, war nicht groß. Sie erkannte eine Kochstelle und daneben saß eine alte Frau in einem Stuhl. Kerzenlicht erhellte ihren Platz und sie strickte emsig. Ohne mit der Strickarbeit aufzuhören, blickte die Frau Aegaria an.
      „Was passiert ist?“, fragte die Frau nach und Aegaria brachte einen Laut heraus, den sie wohl als Zustimmung interpretierte. Die Alte wartete ein paar Augenblicke, dann legte sie das Strickzeug zur Seite. „Ich war draußen, kontrollierte die Verschläge der Hütte, als ich einen langen Schrei hörte. Ich sah gerade noch, wie etwas in den Demi fiel und unterging.“

      Die Frau stand auf, stöhnte dabei leise und kam in leicht gebückter Haltung näher. „Ich habe die Fischernetze in den Fluss gelassen. Viel Hoffnung hatte ich nicht, aber kurz darauf hast du dich darin verfangen. Hab dich rausgeholt. Du hattest eine Menge Wasser in den Lungen. Elion sei Dank, dass ich weiß, wie man das wieder rausbekommt. Das lernt man, wenn man ein ganzes Leben am Fluss verbringt. Jedenfalls ist das schon über zwölf Stunden her. Ich war mir nicht sicher, ob du es schaffst, aber jetzt bist du über den Damm.“
      Aegaria versuchte sich zu bedanken, doch es war zu anstrengend, das Wort zu formulieren.
      „Schon gut, schon gut“, meinte die Alte und strich ihr durch das Haar. „Du musst erst einmal wieder zu Kräften kommen. Dann kannst du mir ja erzählen, wer du bist und was geschah.“

      Was passiert war, ging es Aegaria durch den Kopf, doch sie konnte sich nicht erinnern. Sie hatte keine Ahnung, wie und warum sie in den Fluss gefallen war und grübelte weiter. Doch da war nichts. Sie keuchte auf, als ihr auch ihr Name nicht einfallen wollte. Sie spürte, dass da noch mehr war, Erinnerungen, doch sie waren nicht greifbar.
      „Schhh, schhh, schhh“, machte die alte Frau, während sie ihr weiter den Kopf streichelte. „Bleib ruhig, strenge dich nicht an. Ruh dich aus.“
      "Japan ist ein wenig so wie Österreich: da hast du erstens das Meer..." 8o