Heiße Spur
Calpheon, während der Nacht
Eine düstere Gasse
Es regnet.
Graue Wolken hängen tief am Nachthimmel. Satte Tropfen prasseln auf das glitschige Kopfsteinpflaster. Eine klirrende Kälte kaut sich gefräßig durch meine klatschnasse, klebrige Kleidung und kriecht mir unter die Haut wie ein lästiges Insekt.
Es ist mir egal. Ich zittere nicht einmal. Starre bloß in die düstere Gasse, die in das diffuse Licht des Sichelmonds gehüllt ist.
Beobachtend. Wartend.
Ich weiß nicht, wie spät es mittlerweile ist oder wie lange ich schon im finsteren Schatten des Torbogens stehe. Meine Fingerkuppen, die in glattes, schwarzes Leder gehüllt sind, scharren hinter meinem Rücken ungeduldig über das alte, schäbige Backsteingemäuer, gegen das ich lehne. Ich bilde mir ein, dass meine Stiefelsohlen am steinigen Boden festkleben – dort, wo die Nacht zuvor ein gewisser jämmerlicher Teppichhändler von einer gewissen stinkwütenden Hexe und ihrem Stiefel leckenden Schoßhund ermordet wurde. Was wohl mit dem Leichnam des törichten Dummkopfs geschehen ist? Ich weiß es nicht und ein flüchtiger Blick unter meine Füße offenbart nichts über sein Schicksal. Das dickflüssige, rote Blut ist längst hinfort gespült und auch sein stümperhaft abgeschnittenes Ohr ist nirgends zu sehen. Vielleicht haben hungrige Ratten ihm das Fleisch von den Knochen genagt. Vielleicht hat Rawhiti in ihrer blanken, rohen Wut ihre messerscharfen Krallen an ihm gewetzt oder ihrer wortkargen Kampfhündin noch die eine oder andere Lehrstunde im Leichenzerstückeln erteilt. Wie fürsorglich. Egal. Es ändert nichts daran, dass Darek nicht mehr unter uns weilt.
Es ist lächerlich, wirklich. Dass dieser dumme Narr es zuließ, dass irgendein dahergelaufenes Gör einen Blick auf die Schatulle von Avarok erhaschen konnte und damit nicht nur sein Schicksal besiegelte, sondern auch das zweier geliebter Menschen. Geliebte und Sohn, erstickt am süßen Geschmack des Gifts. Der Junge war erst zwölf Sommer alt, sagte man mir. Bedauerlich. Ein unnötiger Tod, der durchaus zu vermeiden war. Aber die Schwarze Zunft ließ mir keine andere Wahl. Und Jaheem schon gar nicht.
Jaheem.
Ich beiße allein bei dem Gedanken an ihn die Zähne zusammen. Knirsche. Mahle. Spüre die Kaumuskeln an meinen Schläfen pochen wie das Blut, das kochend durch meine Adern fließt. Ich frage mich, wie lange es noch dauert, bis ich dieses kranke Fleisch, dieses wuchernde Krebsgeschwür namens Jaheem aus meinem Körper reißen kann. So, wie er mir Farah aus den Armen riss, als sie noch keine zwei Tage alt war.
Für einen kurzen Moment schließe ich die Augen. Horche, wie der Regenschauer auf das Kopfsteinpflaster trommelt und eine ominöse Melodie spielt. Gestatte mir – ausnahmsweise - einen Moment der Schwäche und erinnere mich an sie. An ihren unvergleichbaren Geruch. Die zarte, noch leicht schrumpelige Haut. Wie sie friedlich eingerollt auf meiner Brust schläft. Ein sanftes Lächeln stiehlt sich auf meine ausgekühlten Lippen und mir wird wieder klar, weswegen ich hier eigentlich stehe und warte.
Ich werde dich finden, koste es, was es wolle. Egal, über wie viele faule, aschfahle Leichen ich gehen muss. Egal, was mir dabei zustößt, solange ich für deine Sicherheit sorgen und dir das Leben ermöglichen kann, das mir immer verwehrt blieb. Das verspreche ich dir.
Ein tief grollendes, ohrenbetäubend lautes Donnern wirbelt mich zurück in die Realität. Ich zucke erschrocken zusammen, reiße wieder die Augen auf und blicke mich hektisch um. Schlucke kurz und atme erleichtert aus, als ich nichts und niemanden sehe und mich wieder beruhige. Ein Blitz flutet die düstere Gasse für einen kurzen Moment in gleißend helles Licht und blendet mich. Dann entdecke ich sie - eine verschwommene Silhouette, die sich mir ruhigen, gelassenen Schrittes nähert.
Es ist Eramis.
Endlich.
Er ist groß und schlaksig, genauso wie ich ihn in Erinnerung habe. Ein gefächerter Poncho aus glattem, kaffeebraunem Leder schlackert mit jedem seiner großzügigen Schritte um seine knochigen Knie. Nur die endlos langen, dürren Unterschenkel, die kniehoch in Lederstiefeln sitzen, offenbaren mir, wie hager seine Gestalt wirklich ist. Ein spitzer Hut, dessen Zipfel leicht nach hinten geknickt ist, hängt ihm tief ins Gesicht und hüllt seine zweifelsohne kantigen, markigen Züge in düstere Schatten.
„Du bist allein?“, frage ich mit ruhiger Stimme, als er unter den Torbogen schreitet, „keiner ist dir gefolgt?“
Eramis bleibt augenblicklich stehen. Dreht seinen Kopf in einer kaum merklichen Bewegung zu mir. „Ich bin kein Amateur“, antwortet er amüsiert, „du verletzt mich.“ Seine Stimme ist flüssig und samtig wie Honig und er grinst mich schief an.
Ich drücke mich mit flachen Handflächen vom bröckeligen Mauerwerk ab. Verschränke meine triefend nassen Arme vor der Brust und trete leichtfüßigen Schrittes aus dem Schutze der Dunkelheit hervor. Drei knochige, braun gebrannte Finger schütteln sich aus Eramis‘ Poncho und heben den Hut etwas an, sodass ich direkt in sein Gesicht blicken kann. Kühle, silbrige Augen mustern mich für eine Weile eindringlich. Es ist, als blickte er direkt in die ausgeschabte, leere Hülle meiner Seele und ich muss mich ziemlich zusammenreißen, um keine Miene zu verziehen.
'Lege dir eine Maske zu‘, hallen die Worte einer nur allzu vertrauen, kalten Stimme in meinem Kopf wider, 'deine emotionalen Entgleisungen, so klein sie auch sein mögen, verraten dich.' Fragmente der Vergangenheit, staubig und blass, ploppen auf wie ein zweiter Blitz am wolkengrauen Himmel.
Eine hölzerne Schatulle. Sprießendes, heißes Blut an meinem Hals. Baumelnde Füße auf einer Lehmhütte. Eine warme, salzige Umarmung. Ein Flüstern: 'Ich will nicht mehr zurück.'
„Rhaida.“
Eramis zerrt mich ins Hier und Jetzt zurück. Ich blinzele ihn verdutzt an.
„Hast du es dir anders überlegt?“
Er fuchtelt mit einem labberigen Stück Pergament vor meinem Gesicht herum. Seine Stirn ist in Falten gelegt. Verwundert. Fragend. Skeptisch.
Ich starre den alten, vergilbten Fetzen für einige Sekunden einfach nur an und sage nichts. Fühle, wie mir ein kalter, klammer Schauer langsam über den Rücken kriecht. Wie mein Herzschlag wilder und wilder gegen meinen Brustkorb hämmert. Wie mein Hals staubtrocken wird und ein klebriger Klumpen meine Kehle verstopft.
„Nein“, flüstere ich und reiße ihm das Stück Papier regelrecht aus den Händen. Ich traue mich kaum, es aufzufalten und die krakelige Schrift von Eramis zu lesen, doch die Neugierde überwiegt. Die Hoffnung. Die blanke Angst.
Als ich die Nachricht mit hungrigen Augen aufsauge, weicht mir alle Kraft aus den Muskeln. Ich kriege keine Luft mehr. Ich atme, aber ich ersticke, als zerquetschte etwas meine Rippen. Zwei Worte schälen sich wie hungrige Maden in meine Haut und fressen sich durch mein Fleisch:
Epheriaport. Freudenhaus.
Jaheem, du Monster. Das wirst du büßen.
Noot noot!
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