Thronraub

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    • Frohe Kunde

      Heidel, am frühen Abend
      Das Anwesen von Khaled Phineas aus dem Hause Ceos
      In der Arbeitsstube

      Tick. Tock. Tick. Tock.

      Das Pendel der alten Standuhr schwingt gleichmäßig hin und zurück. Akkurat. Unermüdlich. Perfekt im Rhythmus der Zeit.

      Es ist früh am Abend. Draußen ist es noch hell. Ich sitze an meinem Schreibtisch aus massivem, dunklem Mahagoniholz und setze mit großer Sorgfalt einen Kaufvertrag auf. Der Federkiel kratzt über das raue Pergament und kerbt meine Worte mit schwarzer Tinte tief in das Papier. Es ist kein besonders kompliziertes Werk. Etwas Simples, das ich gefühlt hunderte Male niedergeschrieben habe. Aber selbst etwas Simples bedarf der absoluten Gründlichkeit, wenn es Gewinn erwirtschaften soll. Und das wird es zweifelsohne tun. Ein lukratives Geschäft, das mir und dem Hause Ceos eine nicht unerhebliche Flut an Silberlingen in die Schatzkammer spülen wird.

      Es klopft.

      Erst zweimal. Dann ein weiteres Mal. Schließlich ein viertes und letztes Mal.

      Ich blicke nicht auf. Führe die mit schwarzer Flüssigkeit gefüllte Feder weiter geübt über das Papier, bis der aktuelle Satz niedergeschrieben ist.

      "Herein", fordere ich laut. Bestimmend. Ohne aufzusehen.

      "Mein Herr."

      Es ist Nasir, mein kluger, aber hässlicher Kammerdiener.

      "Warum störst du mich? Sagte ich nicht, dass ich heute keine Störungen mehr dulde?"

      Ich höre, wie er nervös die Luft einsaugt und nicht mehr atmet. Ich kann seine Angst bis hierhin riechen.

      "Sprich, du Nichtsnutz. Jetzt, wo du schon einmal hier bist", seufze ich genervt und wedele mit dem Federkiel umher, ohne ihn anzusehen. Er atmet wieder aus, aber ich höre keine Erleichterung. Kein Abfallen der Anspannung. Irgendetwas ist faul. Nasir räuspert sich und klackert dann mit harten Schuhsohlen über den prunkvoll gefliesten Boden in meine Richtung.

      "M-Mein Herr", stottert er ein zweites Mal, "eine Botschaft aus Calpheon. Ein Rabe brachte sie."

      Ich blicke auf. "Calpheon." Starre das fahrige, magere Stöckchen, das augenblicklich stehen bleibt und wie angewurzelt dasteht, mit misstrauischem Blicke an. Er sieht hektisch auf meine Lippen und bemerkt, wie meine Mundwinkel missmutig zucken.

      "J-Ja, mein Herr. Seht."

      Er zögert zuerst, wagt aber schließlich die übrigen drei Schritte zu meinem Schreibtisch und hält mir ein makellos gefaltetes Stück Pergament hin, das süßlich und fruchtig riecht. Ich will mich sofort übergeben. Rümpfe angeekelt die Nase.

      "Nasir", sage ich und hebe argwöhnisch eine Augenbraue, "warum zittert deine Hand?"

      Er blinzelt irritiert, starrt dann auf die Hand, die das Stück Papier festhält und ich sehe, wie sein Adamsapfel sich beim Schlucken bewegt. Ohne seine Antwort abzuwarten, reiße ich ihm die Botschaft aus den knochigen Fingern und werfe einen sorgfältigen Blick auf meinen Namen, der auf der äußeren Seite niedergeschrieben ist.

      Ich erkenne die Handschrift sofort wieder. Es ist Tsatsukas.

      Schlagartig sacken mir die Mundwinkel herab. Tsatsuka. Diese räudige Beulenpest aus woher auch immer ihre widerliche Sippe gekrochen ist. Was kann so wichtig sein, dass ausgerechnet dieses teuflische Weib mir schreibt?

      Ohne ein Wort zu sagen, lehne ich mich in meinem großen, bequem gepolsterten Stuhl aus edlem Rosenholz zurück und presse die Fingerkuppen säuberlich aufeinander. Lege einen gestiefelten Fuß auf dem Knie des anderen Beines nieder und rolle meinen Knöchel, bis es knackt. Das exquisite, glatte Leder des Stiefels ist frisch poliert und glänzt. Es spiegelt das gelegentliche Flackern des prunkvollen Kronleuchters wieder, der über mir an der hohen Zimmerdecke aus aufwändig verziertem Stuck hängt. Ich pflege meine Schuhe stets. Ich schätze Sauberkeit.

      Aus den Augenwinkeln heraus beobachte ich, wie Nasir die schlaksigen, blassen Finger ineinander knotet und nervös auf seiner Unterlippe herumkaut. Ein flüchtiger, missbilligender Blick auf sein bleiches, mit Sommersprossen besprenkeltes Gesicht offenbart mir, dass er vor lauter Panik in Schweiß gebadet ist. Was für ein armseliger, feiger Wurm. Dicke, salzige Tropfen perlen ihm die Schläfen hinab und der Ansatz seines feuerroten Haares ist feucht und klebrig.

      Er widert mich an.

      So schmutzig. So unhygienisch. Wie das kränkliche Gesindel in Heidels dreckigsten Gossen. Sein übler Geruch frisst sich mir in die Nase wie scharfer Alkohol und ich will mich wieder übergeben.

      "Nasir, du stinkst wie ein Schwein. Geh dir das Gesicht abwaschen. Na los."

      Er reißt die ohnehin glubschigen Augen weit auf und nickt hektisch.

      "J-Jawohl, mein Herr. Verzeiht, mein Herr."

      Stolpert mit seinen stockdürren Beinen rückwärts über die eigenen Füße wie der letzte Bauerntölpel und hastet zum Fenster, wo eine weiße Porzellanschüssel mit frischem Wasser und einem akkurat gefaltetem Tuch auf einem hölzernen Hocker wartet. Zittrige Finger greifen das Tuch, tauchen es in das kalte Nass und wischen den ekelhaften Schweiß aus seinem Gesicht, bis es wieder sauber und rein ist. Elion sei Dank. Das hier ist doch kein Stall.

      Ich schenke ihm danach keine Beachtung mehr. Elendige Kreatur.

      Zurück zum Pergament.

      Kratzig, trocken und hart liegt es zwischen meinen Fingerkuppen und fühlt sich an wie ein gefalteter Fluch. Wie eigentlich alles, das jemals zwischen Tsatsukas teuflischen Klauen festsaß wie ein hilfloses, in klebrige Spinnfäden gewickeltes Insekt. Dieses heimtückische Biest führt doch irgendetwas im Schilde. Ich kann es förmlich riechen. Eine Nachricht von ihr ist keineswegs eine bloße Nachricht. Die falsche Gräfin lässt sich nicht zu etwas Banalem wie 'Liebster Schwager, was macht die Gesundheit?' hinreißen. Elion bewahre! Nein, vielmehr darf man derartige Worte frei übersetzen mit 'Verabscheuungswürdiges Ekelpaket, mit dem ich bedauerlicherweise verwandt bin, ich wünsche dir die Valencianische Pest an den Hals und hoffe, dass du an deinem Wein erstickst'.

      Schreibt sie mir etwa wegen Leyla und Erijon?

      Allein der Gedanke, dass diese dämonische Ausgeburt der Hölle, die Mutter aufs Vortrefflichste nacheifert, auch nur das Geringste mit meinem Fleisch und Blut zu tun haben könnte, lässt mir die Galle aufsteigen. Vielleicht sollte ich Vater einen Brief schreiben und Tsatsuka den Umgang mit meinen Kindern verbieten. Ehe die beiden ihr auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind wie ich Mutter.

      Nun gut. Ich werde den Grund für ihre zugegebenermaßen unerwartete Botschaft niemals herausfinden, wenn ich die Nachricht nicht lese. Also falte ich das Stück Pergament auf, räuspere mich und lese mit abfälligem Grinsen auf den Lippen laut vor.

      "Seid gegrüßt, wertester Schwager."

      Der Sarkasmus bei dem Wort 'wertester' trieft wie klebriger, süßer Honig aus meinem Munde.

      "Hörst du das, Nasir? Dieses gottverdammte Miststück."

      Ich mache eine abfällige Geste und beuge mich zum Tisch vor, um das Glas Wein zu nehmen, das noch unberührt auf der Tischplatte neben einigen geschäftlichen Briefen und Unterlagen steht. Der edle Tropfen flutet meine Mundhöhle mit seinem köstlichen Geschmack und fließt mir die trockene Kehle hinab wie Samt.

      "Mit diesem Schreiben lasse ich die frohe Kunde überbringen, dass die Erbfolge des Hauses Ceos... gesichert ist. Seine Erlaucht hat bekannt gegeben, dass... Mendred Forchhold nicht nur ein treu ergebener Diener ist, sondern ein Bastardsohn-"

      Die Worte bleiben mir im Halse stecken.

      Was habe ich da gerade gelesen? Mendred Forchhold. Dieser stiefelleckende Köter, der Tsatsuka am Rockzipfel hängt wie ein misshandelter, treudoofer Welpe. Ein Bastardsohn? Meines Vaters? Hat diese Hure jetzt komplett den Verstand verloren?

      Ich starre auf das Papier. Mein rechter Nasenflügel zuckt. Das darf doch nicht wahr sein. Ein Bastard. Ein dreckiges Halbblut. Und Vater will ihn auch noch legitimieren? Ist dieser alte Greis jetzt komplett des Wahnsinns? Hat Mutter ihm wieder ihr giftiges Hexenwerk ins Ohr geflüstert? Wie kann er das bloß zulassen? War es ihm denn keine Lehre, dass sie mich so schikaniert hat?

      Meine Augen fliegen über die restlichen höhnischen Worte, die diese dreckige Hure zu schreiben wagte. Heiraten? Die beiden? Dass ich nicht lache. Damit sie Bälger mit noch unreinerem Blut in die Welt setzen und das Haus Ceos damit besudeln? Beenden? Wertloses Gesindel. So etwas soll Erijon das Geburtsrecht streitig machen? Ich glaube kaum. Nicht mit mir. Nicht, solange ich noch atme.

      Ich stehe ruhig auf. Starre auf die blutige Ohrfeige in Papierform, die Tsatsuka mit zuckersüßem Lächeln in mein Gesicht geschlagen hat. Schließe die Augen und konzentriere mich auf den dumpfen, pulsierenden Schmerz, der sich wie ein Echo gegen die knochige Schale meiner Schädeldecke katapultiert. Immer und immer und immer wieder. Ein ohrenbetäubendes Crescendo in meinem Hirn. Ah, meine Migräne. Ich muss dich wieder herausprügeln. Ich grinse und blecke meine weißen Zähne.

      "Nasir."

      Stille.

      Schließlich ein leises, zögerliches "Ja, mein Herr?"

      "Komm her."

      Und wieder. Stille.

      Dann höre ich das vertraute Klackern seiner harten Schuhsohlen, die sich mir nähern. Er geht sehr langsam.

      "Ach, bevor du nachher nicht mehr aufnahmefähig bist. Sieh zu, dass morgen früh eine Kutsche bereit steht. Wir reisen nach Calpheon."
      Noot noot!

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    • Ass im Ärmel

      Calpheon um Mitternacht
      Das Anwesen von Haus Ceos
      In der Arbeitsstube des Gästezimmers von Khaled Phineas aus dem Hause Ceos

      Ich sitze am Kamin. Starre auf die aschfahle Glut, die kaum mehr an das Feuer erinnert, das dort noch vor einer Stunde in wilden Flammen um sich schlug.

      Nasir wimmert irgendwo in der Ecke der Arbeitsstube. Er scharrt mit seinen knochigen Fingern über das edle Holz des Fußbodens. Was für ein jämmerlicher, schwacher Wurm. Besudelt das exquisite Parkett des Zimmers mit seinem dreckigen Blut und seiner schleimigen Rotze. Er, ein unwürdiger Kammerdiener. Er widert mich an. So schmutzig. So unhygienisch. Eine mit kränklichen Bakterien verseuchte Kreatur, die es wagt, ihre fauligen Körperflüssigkeiten auf meinem Fußboden auszuscheiden.

      "Halt dein Maul", knurre ich kalt über die Schulter. Das weinerliche Klagen verstummt.

      Am Fuße des Kamins stehen fein säuberlich angeordnet meine Schuhe aus glattem, schwarzem Leder auf einem Lappen. Die Flecken der dickflüssigen Pflegepaste haben den Stoff des weißen Tuchs überall beschmutzt. Daneben liegen zusammengeknüllte Tücher voller Blut. Ein Nährboden für Krankheiten und Bakterien. Ich werde sie morgen früh entsorgen lassen, ehe ich mich noch mit irgendetwas Krankhaftem infiziere.

      Das Gespräch mit Vater liegt mir übel im Magen. Er zeigt keine Einsicht. Er lässt sich nicht von seinem Kurs abbringen. Nicht einmal das Silber, das ich in die Schatzkammer des Hauses Ceos spüle, ist ein ausreichendes Druckmittel, um ihn zur Umkehr zu bewegen – das gab er mir unmissverständlich zu verstehen.

      Ich starre auf die erkaltete Feuerstelle. Sturer Greis. Er ist alt und ängstlich geworden. Lässt sich vom dummen Geschwätz anderer in die Irre führen als sei er nicht mehr bei gesundem Verstand. Natürlich bestreitet er dies. Behauptet, dass er derjenige ist, der das Erbrecht neu regeln will, weil mein inakzeptables Verhalten meinen Sohn angreifbar macht. Aber ich weiß, dass es nicht sein Wille ist. Ich sah es ihm im Gesicht an, als wir miteinander sprachen. Er liebt mich. Und er liebt Erijon. Und es tut ihm sehr weh, mich so zu enttäuschen und meinem Fleisch und Blut auf so heimtückische Weise das Erbrecht aus den Händen zu reißen und seinem Bastard zu übergeben. Mendred Forchhold. Welch Abschaum. Eine eitrige, faulige, stinkende Wunde im gesunden Fleische unserer Familie. Und an seiner Seite Tsatsuka, die nach Mutter die zweitgiftigste Schlange ist, die hungrig und gierig und lautlos durch die Flure unseres Hauses kriecht. Euer respektloses, arrogantes Auftreten mir gegenüber wird mir im Gedächtnis bleiben. Ich werde euch beide gnadenlos ausrotten, bis nichts mehr von euch übrig ist. Seid euch dessen gewiss.

      Ich brauche nur noch das Ass in meinem Ärmel.

      Das Glas, das ich locker in meinen Fingerkuppen halte, ist mit einem exquisiten Rotwein gefüllt. Ich schnuppere an dem süßlichen Aroma und flute meine Kehle mit der fruchtigen Flüssigkeit. Der Alkohol wird mich etwas beruhigen. Und die scharfen, kreischenden Klauen, die an dem Knochen meiner Schädeldecke scharren, abstumpfen lassen.

      'Jahrgang 68', hallt die höhnische, zuckersüße Stimme von Tsatsuka in meinem Kopf wieder, als der Wein mit wohlwollendem Geschmack in meiner Mundhöhle verweilt. Dreckige Hure. Als ob ich dein armseliges Spiel, mich an mein Eheweib zu erinnern, nicht durchschaut hätte.

      Ah, Xellesa. Mein teuflisches Weib.

      Ich schließe die Augen und lege meinen Kopf entspannt gegen die gepolsterte Rückenlehne des Herrensessels. Grinse amüsiert und versuche, mich zu erinnern. Die blassen, verschwommenen Gesichtszüge meines Eheweibs wabern wie Schatten unter einer trüben, schmutzigen Wasseroberfläche. Mit einer scharfen Klinge versuche ich, die Umrisse ihres Gesichtes nachzuzeichnen.

      Xellesa. Ich frage mich, wo dein süßer, warmer Leib jetzt wohl sein mag. Ob der raue Sand der Wüste deine fleischlosen Knochen zermahlen hat. Ob dein gesichtsloser Staub nun einsam zwischen kargen Felsen und trockenem Gestrüpp liegt, wo ihn niemand jemals finden wird. Oder ist es dir etwa wieder gelungen, deinem Schicksal zu entkommen? Davonzulaufen? So wie du mir davongelaufen bist?

      Es ist kurios, wirklich. Dein ausgeleierter, benutzter, alter Körper war mir so zuwider. Deinen nackten Körper nach Leylas Geburt anzusehen. Anzufassen. In dich einzudringen... Es kostete mich so viel Überwindung. Du löstest nur Ekel und Übelkeit in mir aus. Und jetzt, wo ich dich nicht mehr haben kann. Wo du es wagtest, dich mir zu entziehen, will ich dich mehr als jemals zuvor. Du gehörst mir, Xellesa. Keine weltliche oder religiöse Scheidung kann die Ketten zerbersten, mit denen du bis zu deinem Tode an mich gefesselt bist. Und solltest du noch am Leben sein, glaube mir, Liebste, werde ich dich aufspüren und einfangen und dich zurück nach Hause bringen. Koste es, was es wolle. Und eines Tages wirst du verstehen, dass dein Platz an meiner Seite ist.

      Während mir der Alkohol langsam ins Blut sickert und durch meine Adern pulsiert, pflücke ich alte, staubige Laken von Erinnerungen, die in der Abstellkammer meines Kopfes schlummern. Ich nicke fast ein, als eine besonders befremdliche Erinnerung an die Oberfläche steigt und mir ihre faulige, leichenblasse Fratze offenbart.

      Xellesas angeblich alchemistisch-medizinischen Experimente.

      Ich öffne die Augen. Starre in den Kamin, der mittlerweile kalt und dunkel ist. Und grinse zufrieden.

      Mein Ass im Ärmel. Teuflisches Eheweib, ich könnte dich küssen.
      Noot noot!

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    • Tagebuch des Grauens

      Calpheon zur Mittagszeit
      Das Anwesen von Haus Ceos
      Im Garten

      Es ist bitterkalt.

      Kristalle aus frostigem Eis und gefrorenem Schnee umhüllen die kahlen Äste der Bäume. Das alte Mauerwerk des Geländers, an dem ich stehe, ist mit weißem Puder benetzt. Mit in Leder gekleideten Fingerkuppen wische ich es fort, bis das graue Gestein zum Vorschein kommt. Das Laub, das von den Baumwipfeln abgefallen ist wie totes Fleisch vom Knochen, ruht nicht mehr am Fuße des Baumes beim Wurzelwerk, das aus der hart gefrorenen Erde ragt wie die Tentakel eines Meereskraken. Wahrscheinlich hat der Gärtner die braunen und fauligen Blätter längst zusammengekehrt und fortgeschafft. Es ist sauber und gepflegt hier. Ruhig und abgeschieden. Gar idyllisch, wenn man denn in Kitsch und verklärte Romantik verfallen möchte. Widerlich so etwas.

      Aber längst nicht so widerlich und abstoßend wie die Worte, die mit exzentrischer, chaotischer Handschrift in diesem Buch niedergeschrieben stehen.

      Es ist so unscheinbar und klein. Bloß zwei Zentimeter dick, mit beigefarbenen Seiten aus rauem Pergament, das in eine wettergegerbte, alte Lederhülle gebunden ist. Ich lege es auf die Stelle, die ich soeben vom Schnee befreit habe, und betrachte es eine Weile.

      Das Tagebuch meines Weibs. Das Tagebuch des Grauens.

      Oh, Xellesa. Du törichtes, stures Weib. Glaubtest du wirklich, dass du mit klarem, gesundem Verstand wieder aus dem Krieg zurückkehren würdest? Selbst die mental stärksten unter uns Männern, die auf dem blutigen Schlachtfeld zwischen eitrigen Wunden, zersplitterten Knochen und fauligem Fleisch um ihr Leben kämpften, gingen elendig an den Gräueln des Kriegs zugrunde. Zerfressen von Schuldgefühlen. Einst saubere, unschuldige Hände getränkt in dem klebrigen Blut ihrer Feinde. Körperlich mürbe und erschöpft von dem monatelangen Gemetzel, das an ihren Kräften zehrte. Geistig ausgelaugt von den zahlreichen Verlusten in den eigenen Reihen, wenn am Ende des Tages ein erschlagener Kamerad nach dem anderen vom Schlachtfeld geborgen wurde. Und überall der Geruch des Todes in der Nase. Dass der schwache, gebrechliche Geist eines Weibs wie dir an den Grausamkeiten des Kriegs zerbricht, war in Anbetracht dessen bloß eine Frage der Zeit.

      Und nun bist du völlig durchgedreht. Eine armselige Sklavin deines eigenen grotesken Wahns. Besessen von dem Irrglauben, dass du die schrecklichste Seuche heilen könntest, die unsere Lande jemals heimgesucht hat. Du experimentiertest an dem menschlichen Gewebe ermordeter Unschuldiger. Wobei ich nicht behaupten kann, dass ich den Tod dieses ekelhaften, kränklichen Gesindels in irgendeiner Weise bedauere. Dass du dazu fähig bist, im Rahmen deiner Experimente und Forschungen an lebenden Subjekten zu arbeiten und sogar genüsslichen Gefallen an deinen Folterspielchen findest, hätte ich selbst in meinen perversesten Träumen nicht zu glauben gewagt. Das Labor, so staubig, heruntergekommen und verlassen es auch wirkte, ließ das Blut in meinen Adern gefrieren. All die blutgetränkten Verbände, die alchemistischen Gefäße mit nicht identifizierbarem, glibberigem Inhalt ließen die Galle in mir aufsteigen, bis mir speiübel war. Und was auf diesem mit eingetrockneten Flüssigkeiten besudelten Stuhl passiert ist, hat mir dein Tagebuch nur allzu bildhaft geschildert.

      Du hast komplett den Verstand verloren, Liebste. Und mir damit das Ass im Ärmel beschert, das ich so verzweifelt suchte. Mein Trumpf. Mein Druckmittel. Meine Chance, Vater zur Umkehr zu bewegen. Wenn deine grausamen Experimente jemals an die Oberfläche gelangen sollten, ist der exzellente Ruf des Hauses Ceos völlig ruiniert...

      Und so bizarr und unerwartet dies auch klingen mag, es gefällt mir. Diese kalte, berechnende und skrupellose Seite an dir. Es ist zweifelsohne bemerkenswert, was du alleine auf die Beine gestellt hast. Auch wenn ich dir jegliche Fähigkeit abspreche, mit deinen abstrusen Versuchen irgendwelche nennenswerten Erfolge zu erzielen. Du mochtest passabel darin gewesen zu sein, lästige Leiden zu lindern - seien es meine Migräne, Erijons Lungenleiden oder Aegarias Anfälle. Aber du bist keine Heilsbringerin, Xellesa. Und wusstest selten, wo dein rechtmäßiger Platz in dieser Welt ist.

      Was hat dich bloß in die karge, trockene Wüste Valencias getrieben? Hat dein Wahn dich etwa ins Verderben gestürzt?

      Vielleicht ist das der Fluch, von dem diese geistig zurückgebliebene Hexe aus östlicheren Gefilden sprach. Safiyea, so lautete ihr Name. Es wundert mich ehrlich gesagt etwas, dass ich ihn mir überhaupt merken konnte. Vielleicht war ihr wirres Gerede auch bloß die verbale Ausgeburt ihres beschränkten, primitiven Intellekts. Obgleich ich gestehen muss, dass die Worte, die auf der angeblichen Abschrift deiner Tagebuchseite niedergeschrieben standen, verdächtig vertraut nach deinen Worten klangen... schließlich kenne ich deine medizinischen Schriften, deine Art, Gedanken in Worte zu fassen und aufzuschreiben, nur allzu gut. Letztlich spielt es keine Rolle. Sollten deine Lungen irgendwo auf dieser Welt noch Luft atmen, werde ich keinesfalls zulassen, dass diese Verrückte auch nur einen ihrer dreckigen Finger an dich legt. Gnade ihr oder meinem Bastardbruder Mendred, sollten die beiden sich in dieser Angelegenheit gegen mich stellen.

      Mendred...

      Ich weiß nicht, ob er mich amüsiert oder zur Weißglut treibt. Auf dem Winterball des Hauses dé Navarre machte ich mir einen Spaß daraus, eine einigermaßen gepflegte Konversation ohne Beleidigungen und fiese Seitenhiebe zu führen. Es steht zweifelsohne fest, dass er ein naiver Schwachkopf ist, der durch ehrenwertes Handeln die Geschicke des Hauses führen möchte. Ihm mangelt es leider an der nötigen Skrupellosigkeit, um in dem bissigen und nicht selten giftigen Schlangennest des manipulativen Adels überleben zu können. Das Haus Ceos wird mit ihm sang- und klanglos untergehen, wenn er nicht bald von seiner dreckigen Hure Tsatsuka oder Mutter lernt.

      Aber darüber muss ich mir nun keine Gedanken mehr machen. Schließlich habe ich nun dies hier.

      Ich lächele gehässig, streife mir das matte, schwarze Leder von den Fingern und streiche behutsam über das Tagebuch.

      Noot noot!

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    • Hinweis: milde sexuelle Inhalte



      Wiedervereint

      Calpheon des Nachts
      Das Anwesen von Haus Ceos
      Im Schlafgemach von Xellesa Ceos

      Du bist zurückgekehrt.

      Xellesa. Mein verhasstes und geliebtes Weib. Die Mutter meines eigen Fleisch und Blutes.

      Fünf unsagbar lange Jahre ist es her, als du die Kinder und mich zurückließt. Als du in einem Zustand geistiger Verwirrtheit deiner Familie den Rücken zukehrtest und stattdessen in das blutige Schlachthaus des Krieges zogst, um die Leiber niedergestreckter Soldaten zu flicken. Ich weiß nicht, was dich zu solch einem irrsinnigen Entschluss getrieben hat. Warum du einen derart blutbesudelten, zerstörerischen Weg beschreiten wolltest. Ohne zurück zu blicken. Ohne dich auf deinen - für ein Weib zugegebenermaßen bemerkenswerten - Intellekt zu besinnen und eines Besseren belehrt heimzukehren. Zurück an meine Seite, wo dein rechtmäßiger, von Elion bestimmter Platz ist.

      Und jetzt liegst du wieder neben mir.

      Noch immer kann ich es nicht fassen. Nicht wirklich begreifen. Natürlich weiß ich, dass es wahr ist. Dass ich es mir nicht einbilde wie ein träumerischer, von Hoffnungen geblendeter Tor. Dass es kein bloßes Hirngespinst meines Verstands ist und du wahrhaftig zu mir zurückgefunden hast nach all den Jahren der Ungewissheit. Eine Totgeglaubte, die wieder lebendig ist. Ein zu trockenem Staub und Asche zerfallener Leib, der mit Haut und Fleisch auf den Knochen aus dem kargen Nirgendwo der Wüste Valencias wiederauferstanden ist.

      Du bist zurückgekehrt.

      Und weißt nicht mehr, wer du bist und woher du kommst.

      Es ist ein Segen und ein Fluch zugleich. Ersteres für mich und Letzteres für dich. Ich kann mir gar nicht ausmalen, wie du dich jetzt fühlen musst, du armes Ding. Verloren. Verlassen. Hilflos. Ohne Vergangenheit. Deiner kompletten Identität und deines wahren Ichs beraubt.

      Es macht dich zu einem gefundenen Fressen derer, die dich wie ein bloßes Werkzeug für ihre eigenen perfiden Zwecke missbrauchen wollen. Und du bist überhaupt nicht in der Lage, dieses heimtückische Spiel zu durchschauen und dich dagegen zu wehren.

      Wie auch?

      Alles ist eine Frage subjektiver Wahrnehmung. Ansichtssache, möchte man sagen. Wessen Aussage ist wahr? Wessen eine dreiste, giftige Lüge? Es spielt keine Rolle, wie gutgläubig oder skeptisch du bist. Du bist gefangen in den klebrigen Fäden eines Spinnennetzes, ob du willst oder nicht. Es ist ein undurchsichtiger Sumpf, aus dem du niemals herausfinden wirst, solange deine Erinnerungen schlummern. Und die hungrigen Wölfe um dich herum füttern und mästen dich mit ihren Lügen, bis du fett und saftig bist und geschlachtet werden kannst, um ihre gierigen Mäuler mit deinem köstlichen Fleisch zu stopfen.

      Und ich bin der hungrigste Wolf von allen.

      Ich betrachte dich wortlos. Wie die fast heruntergebrannte Kerze aus karminrotem Wachs auf dem Beistelltisch auf einem Kerzenständer aufgespießt flackert und deine schlafende Silhouette in warmes Licht hüllt. Dein nacktes, zartes Fleisch ist bis zu deiner Hüfte entblößt. Das weiße, zerknitterte Bettlaken schmiegt sich eng an deine sinnlichen Schenkel, dein wohlgeformtes Gesäß und die Wespentaille, die deine weiblichen Rundungen komplimentiert. Mit deinem Rücken liegst du von mir abgewandt und atmest gleichmäßig und ruhig.

      Bei dem Gedanken kann ich mir ein schmutziges Grinsen nicht verkneifen. Noch vor wenigen Minuten war deine Atmung völlig außer Kontrolle. Dein jetzt unschuldiges Gesicht mit purer Lust geflutet. Dein Verstand ausgeschaltet und benebelt. Mit jedem Stoß hast du darum gebettelt, dass ich dich kommen lasse. Unterwürfig. Gefügig. Von den niederen Trieben deines Leibs gesteuert. Und ich grausames Monster habe dir deinen sehnlichsten Wunsch verwehrt. Dich noch eine Weile gequält, bis du so sehr gefleht hast, dass selbst ich Mitleid mit dir hatte.

      Oh, Xellesa. Mach dir keine Sorgen mehr. Du bist wieder im Kreise deiner Familie. In Sicherheit. Nichts wird dir geschehen, solange du das tust, was ich von dir verlange. Solange du weißt, wo dein Platz in dieser Welt ist und brav dort sitzen bleibst, ohne irgendwelche Anstalten zu machen, aufzustehen und weg zu gehen.

      Das bist du mir und unseren Kindern schuldig.

      Leyla und Erijon haben dich so sehr vermisst… Ich habe keinerlei Zweifel daran, dass du ihnen ab sofort eine gute, liebevolle Mutter sein wirst. Und mir eine gute Ehefrau. Auch wenn sich dein Geist nicht mehr an uns erinnern kann, so hat dein Leib instinktiv gewusst, dass du diese Kinder gebarst und mir das Bett gewärmt hast. Sonst würdest du jetzt nicht entblößt neben mir liegen. Und solange du artig an den Puppenfäden meiner Finger tanzt, werde ich dich anständig behandeln. Bis ich dich anderweitig zu meinem Vorteil nutzen kann.

      Als Ass in meinem Ärmel.

      Ich puste die zerschmolzene Kerze aus und presse mich an deinen schlafenden Leib. Meine Fingerkuppen suchen die Knospen deiner weichen Brüste und ich höre dich leise seufzen, als ich dich berühre. Dann flattern deine Augenlider auf und du drehst dich mit schläfrigem, lüsternem Blick zu mir um. So hungrig. Und so erregt.

      Endlich sind wir wiedervereint, meine Liebste. Und ich werde dich nie wieder gehen lassen.

      Bis dass der Tod uns scheidet.
      Noot noot!

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    • Hinweis: milde sexuelle Inhalte


      Rückschlag

      Calpheon
      Das Anwesen von Haus Ceos
      Im Gästezimmer von Khaled Phineas aus dem Hause Ceos

      Es ist früh am Morgen.

      So früh, dass es draußen noch dunkel und still ist. Das Fenster hinter mir steht weit offen und flutet das Zimmer mit kalter, frostiger Luft. Die Kälte stört mich jedoch nicht – ganz im Gegenteil. Es tut mir gut, die frische, klare Morgenluft in meinen Lugenflügeln zu spüren und den stickigen, klebrig-süßen Geruch von Schweiß und Sex aus der Nase zu waschen.

      Xellesa wärmte mir vergangene Nacht das Bett und wusste gar nicht, wie ihr geschah. Die Wut über das, was passiert war, musste raus aus meinem Leib, aber hier in Calpheon, im stetigen Blickfeld aller, ist es schwierig, Nasir so blutig zu prügeln, dass es niemandem auffällt. Es macht alles so lästig kompliziert und beschränkt mich in meinem Handeln. Aber es gibt bittersüße Alternativen, um Abhilfe zu schaffen. Alternativen, die entblößtes, gefesseltes Fleisch und harte Stöße erfordern, um meine Aggression zu entladen. Und Xellesa hieß mich mit gespreizten Schenkeln und feuchter Lust willkommen.

      Zugegebenermaßen irritiert mich ihr Verhalten. Es wirkt nahezu befremdlich, wie unterwürfig und willig sie ist. Wie sie bettelt und fleht. Aber in Anbetracht der jüngsten Ereignisse sollte es mich nicht wundern. Sie weiß nicht mehr, wer sie ist, wer sie damals war und es ist fraglich, ob ihre schlummernden Erinnerungen jemals wieder erwachen. Und Elion bewahre, darüber beklage ich mich nicht. Ein Werkzeug nutzt mir nämlich nur, wenn es intakt ist und funktioniert. Und Xellesas wahrer Geist ist so zerstörerisch, so unberechenbar, dass er sie von innen heraus zerfressen und in Fetzen reißen würde - und mit ihr die delikaten Fäden an meinen Fingern, an denen sie wie eine Marionette baumelt und zu meiner Melodie und tanzt.

      Aber das ist derzeit nicht meine größte Sorge. Es ist nicht das, was meinen Kopf fast zum Zerbersten bringt. Das schrille Klirren meiner Migräne treibt mich regelrecht in den Wahnsinn. Tock, tock, tock. Es pocht und pulsiert. Wie Hammer und Meißel, die mit gleichmäßigen Schlägen die knochige Platte meines Schädels zermürben und aufbrechen. Immer und immer wieder. Unermüdlich und hartnäckig.

      „Nasir. Bring mir den Kräutersud gegen meine Migräne.“

      „Ja, mein Herr.“ Er kämmt mir noch zwei, drei Mal durch das frisch gewaschene Haar und legt den Kamm aus edelstem Elfenbein beiseite, um die Phiole mit Xellesas bitter schmeckendem Kräutersud zu holen. Es ist kein Allheilmittel, aber es mildert die Symptome spürbar ab und hilft mir dabei, einen klaren Kopf zu bewahren. Wenn ich etwas im Moment nicht gebrauchen kann, ist es blinder Zorn, der mir die Sinne benebelt und mich womöglich etwas Dummes tun lässt.

      Ich warte und bleibe vor dem Spiegel meines Schlafgemachs stehen. Betrachte mich wortlos. Unzufrieden. Denn mir gefällt nicht, was ich sehe. Mir gefällt heute eigentlich überhaupt nichts.

      Was passiert ist, ist nicht ärgerlich. Es ist auch keine bloße Unannehmlichkeit, die sich mit einem Fingerschnipsen und ein paar simplen Handgriffen beseitigen lässt. Es ist die reinste Katastrophe. Und in mir tobt die Wut wie die feurigen Flammen der Hölle.

      Der diebische Bastard lebt. Und mein geliebter Sohn ist verwundet. Welch ein Debakel… welch Katastrophe!

      In der Reflektion des Spiegels sehe ich, wie mein rechter Nasenflügel vor Wut aufflackert und meine Mundwinkel missmutig hinabsacken. Es wäre ein Leichtes, die spiegelglatte Oberfläche mit einem einzigen Faustschlag zu zertrümmern, eine Scherbe aus dem Rahmen zu brechen und Nasir damit ein hübsches Muster in die Haut zu ritzen. Er ist so blass und hässlich, dass es ihm zweifelsohne keinen Abbruch täte.

      Aber ich muss mich beherrschen. Am Riemen reißen. Ich kann es mir nicht leisten, derart die Kontrolle zu verlieren. Nicht hier in Calpheon. Also presse ich bloß die Zähne aufeinander und mahle. Mahle und knirsche wie mit Mühlensteinen und atme tief durch.

      Mendred sollte bei dem Überfall auf das Feldlager sterben. Und mit ihm das stinkende Wolfsrudel von Leibgarde, das er um sich schart, genauso wie Hauptmann Purzelbaum oder wie auch immer dieser geistig beschränkte Schönling heißt. Der Plan war so perfekt. Er war die Lösung all meiner Probleme, die sich wie lästige Stolpersteine auf meinem Weg häufen und drohen, mich zu Fall zu bringen. Das kränkliche Krebsgeschwür namens Mendred, das die Linie von Haus Ceosvon meiner Familie! - mit seinem schmutzigen Gossenblut besudelt, sollte bei diesem Coup aus dem Leib dieser Welt geschnitten werden. Und mit ihm seine treue Gefolgschaft von Leibgardisten, für die Erijon als angehender Graf aus offensichtlichen Vertrauensgründen keine Verwendung mehr haben würde. Dafür ließ ich eigens eine Bande zwielichtiger, aber diskreter Meuchelmörder mit exzellentem Ruf in Calpheon anheuern.

      Und was ist passiert?

      Der üppig mit Silber befüllte Beutel ist fort, die offenkundig unfähigen Söldner tot und Erijon wäre beinahe umgekommen.

      Erijon… mein armer Sohn…

      Bei Elion, bin ich froh und erleichtert, dass er wohlauf ist. Dass ihm außer einer Fleischwunde nichts geschehen ist. Es hätte so viel schlimmer kommen können. Eine in Gift getränkte Pfeilspitze im Fleische seines Leibes. Oder dass die Finger des Bogenschützen am Nockpunkt der Sehne etwas ruhiger, der Pfeilschuss etwas präziser gewesen wären. Mitten in das Herz meines Jungen.

      Dem medizinischen Geschwafel meines Weibs zufolge war es ein glücklicher Umstand, dass er keine bleibenden Schäden davon tragen wird - zumindest aller Voraussicht nach, soweit es der Medicus in der Feste bisher beurteilt. Es steht natürlich außer Frage, dass Xellesa an dem armen Jungen herumdoktern wird, um die restlichen Zweifel zu beseitigen und sicher zu gehen, dass dem auch wirklich so ist. Und wehe, wenn nicht. Andernfalls sorge ich dafür, dass dieser inkompetente Quacksalber von Medicus seines Lebens nicht mehr froh wird, wenn ich mit ihm fertig bin. Ich akzeptiere nicht, dass mein Sohn für den Rest seines Lebens als Spastiker mit verkrüppeltem Arm bemitleidet oder gar verspottet wird. Er ist mein Fleisch und Blut. Mein Erbe. Und ich brauche ihn unversehrt, ohne jeglichen Zweifel an seinem Vermögen, die Geschicke von Haus Ceos zu lenken.

      Nasir kehrt zurück.

      „Hier, mein Herr“, stottert er nervös und reicht mir eine Schale aus schäbig bemaltem Porzellan, in die er den Kräutersud gefüllt hat. Ich sage nichts und kippe das dickflüssige Zeug wortlos in mich hinein. Es schmeckt scheußlich.

      „Nun kleide mich und beeil dich damit“, herrsche ich ihn genervt an, „wir brechen bald auf.“

      „Jawohl, mein Herr.“ Er stellt die Porzellanschale auf den hölzernen Beistelltisch neben dem Spiegel und stolpert zum Stuhl, auf dem meine Kleidung fein säuberlich und ordentlich drapiert ist.

      Mit kritischem Blick beobachte ich durch die Spiegelreflektion, wie Nasir mir die Weste aus edelster, valencianischer Seide über die Schultern stülpt und hektisch um mich herumwuselt, um die Knöpfe in die Ösen einzufädeln. Ich stelle dabei missmutig fest, dass mein Gesicht selbst im warmen Licht der Öllampe blass und faltig aussieht, mit Krähenfüßen an den Augenwinkeln und dunklen Tränensäcken, die der unerwünschte Beweis dessen sind, dass ich die vergangene Nacht nicht schlafen konnte. Und das, obwohl ich Xellesa fast bis zur Besinnungslosigkeit gefickt habe.

      Überhaupt war ich nicht mehr ich selbst, seit Vater mir beim Frühstück ganz beiläufig mitgeteilt hatte, dass Erijon mit seinem Kampfmeister zur Trinafeste aufgebrochen war. Mir war so speiübel, dass ich das Essen fast zurück auf den Teller gekotzt hätte. Vater ahnte nicht, was er damit angerichtet hatte. Die Meuchelmörder waren längst beauftragt und mein eigener Sohn ungewollt in Gefahr. Mein verzweifelter Versuch, das Attentat zu stoppen, scheiterte kläglich, als kein Rabe mit Antwort auf meine Nachricht kam. Wenn Erijon durch mein Tun zu Tode gekommen wäre, hätte ich mir das niemals verzeihen können.

      Wir brechen bald zur Feste auf, um nach seinem Wohlergehen zu sehen. Auf dem Weg dorthin werde ich mir sorgfältig überlegen, wie ich mit dieser Situation und ihren Konsequenzen in Zukunft umgehen werde. Ob jemand Verdacht geschöpft hat? Ich muss diese Option miteinkalkulieren und vorerst Vorsicht walten lassen, damit mir niemand auf die Schliche kommt. Damit es letztendlich nicht mein Kopf ist, der rollt.

      Eines steht jedenfalls außer Frage. Ohne Zweifel und mit absoluter Gewissheit. Du wirst sterben, Mendred. Früher oder später. Und mit dir alle, die sich mir oder meiner Familie in den Weg stellen. Koste es, was es wolle.
      Noot noot!

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    • Hinweis: milde sexuelle Inhalte


      Ungebetene Erinnerungen


      Heidel, am frühen Abend
      Das Anwesen von Khaled Phineas aus dem Hause Ceos
      In der Arbeitsstube

      Tick. Tock. Tick. Tock.

      Das Pendel der alten Standuhr schwingt gleichmäßig hin und zurück. Akkurat. Unermüdlich. Perfekt im Rhythmus der Zeit. So wie jeden Tag.

      Es ist Winter und noch früh am Abend. Draußen auf den Straßen Heidels ist es bereits stockdunkel und bitterkalt. Frostig kalte Luft, gemischt mit Schneeflocken und dem Pfeifen des Windes, scheppert gegen das Fensterglas meiner Arbeitsstube und sagt mir unmissverständlich, dass es draußen stürmt und schneit.

      Es kümmert mich nicht sonderlich. In meiner Arbeitsstube ist es gemütlich und warm. Feuer knistert hinter mir im Kamin, Kerzen flackern über mir auf dem Kronleuchter und lassen diffuse Schatten auf den Wänden tänzeln. Ekelhaft romantisch, möchte man meinen. Ich gedenke jedenfalls angesichts des schäbigen Wetters draußen nicht mehr aus dem Haus zu gehen.

      Stattdessen sitze ich an meinem Schreibtisch aus Mahagoniholz, den Fußknöchel lässig auf dem Knie ruhend und in absoluter Konzentration. Auf der Tischplatte vor mir liegt fein säuberlich ausgebreitet ein Tuch aus rußschwarzem Samt. Es schützt die empfindliche Oberfläche meiner Kürbispfeife, die mit blutrot gefärbtem Kopf, goldenem Ring und Mundstück aus Kautschuk auf der Seite liegt und im flackernden Licht der Kerzen wie frisch poliert glänzt. Über eine hässlich bemalte Porzellanschale gebeugt, zerreibe ich sorgfältig mit Daumen und Zeigefinger etwas Würztabak aus calpheonischem Anbau - mein Favorit seit vielen Jahren, der mit ausgewählten Gewürzen aus Valencia und Arehaza aromatisiert ist und ohne üppig befüllten Silberbeutel kaum zu erstehen ist.

      Es ist keine dieser dilettantischen Fertigmischungen für ahnungslose oder unfähige Amateure, sondern ein grober Schnitt aus qualitativ hochwertigstem Tabak und muss erst noch die richtige Körnung erhalten, ehe man die Kammer damit befüllen kann. Korrekt, ich sagte 'befüllen'. Tabakpfeifen stopft man nicht wie eine fette Gans. Man füllt sie mit Bedacht und Präzision. Man muss wissen, wie. Nicht grobschlächtig. Nicht mit roher Gewalt. Nicht wie ein harter Schwanz, der wild in die warme Feuchtigkeit eines Weibs gestoßen wird.

      Also lasse ich die zerkleinerten Krümel mit großer Sorgfalt in die Kammer rieseln und klopfe vorsichtig auf den Pfeifenkopf. Auf diese Weise gleitet der Tabak tiefer in den Hohlraum, der innen mit valencianischem Meerschaum beschichtet ist, damit der empfindliche Kürbis nicht der heißen Glut des Tabaks zum Opfer fällt. Anschließend drücke ich die Tabakkrümel behutsam mit meinem kleinen Finger fest. Ich wiederhole diesen Schritt mehrmals. Es ist wie ein Ritual. Eine religiöse Zeremonie. Eine routinierte Prozedur, die über Jahre perfektioniert wurde. Geübte Finger füttern den Pfeifenkopf mit aromatischem Würztabak, bis die korrekte Menge eingefüllt ist.

      Endlich ist es soweit. Ich kann die Kürbispfeife anzünden.

      Das Mundstück aus weichem Kautschuk, das angenehm mit den Zähnen zu beißen ist, führe ich zu meinen Lippen. Mit einem Streichholz entfache ich eine kleine Flamme und zünde den Tabak gleichmäßig an. Dabei muss ich behutsam vorgehen, damit ich nicht versehentlich den Pfeifenkopf beschädige und dieses kostbare Erbstück irreparabel ruiniere. Die ersten Züge schmecken scheußlich und der graue Qualm dampft wild auf, aber das ist nicht ungewöhnlich. Das würzige Aroma entfaltet sich erst nach einer Weile, also ertrage ich den beißenden Geschmack mit angewidert herabgesenkten Mundwinkeln. Zum Schluss glätte ich die glimmende Oberfläche des Würztabaks mit einem Pfeifenstopfer zu einer gleichmäßigen Schicht, dann ist mein Werk getan.

      Draußen tobt weiterhin der frostig kalte Schneesturm. Ich kann es hören, aber ich ignoriere es. Stattdessen lehne ich mich in meinem bequem gepolsterten Holzstuhl zurück und genieße das vollmundig schmeckende Aroma des Würztabaks. Ich will jetzt an nichts denken. Mich mit keinem lästigen Gedanken herum plagen. Aber im Augenblick der Ruhe und Entspannung fluten ungebetene Erinnerungen meinen Kopf, so wie der Fluss Demi an diesem stürmischen Abend ohne Zweifel über die Ufer Heidels schwappt.

      Mendred. Tsatsuka. Luna 'mir scheint das Mondlicht aus dem Scheißloch' Sophie. Welch putziges, pausbäckiges Gossenblut Tsatsuka noch aus ihrem alten, schrumpeligen Leib zu pressen vermochte. Wahrlich ein medizinisches Wunder. Und widerlich. Als ich dieses dreckige Gör das erste Mal sah, wollte ich es sofort mit dem Sofakissen ersticken. Sogar Xellesa wirkte angeekelt, als Tsatsuka ihr das quengelnde Blag ungebeten in die Arme drückte und es fast so aussah, als wollte es die Milch ihrer Amme wieder auskotzen. Zumindest glaube ich, dass eine Amme das Gör stillt. Ich kann mir kaum ausmalen, dass aus Tsatsukas trockenen, faltigen Hautlappen noch so etwas wie Milch sprießen kann.

      Als Weib ist diese kleine Missgeburt wenigstens zu kaum etwas zu gebrauchen. Aus meiner Sicht auch nicht zur Vermählung mit einem wohlhabenden Adeligen Calpheons, um geschäftliche Kontakte zu knüpfen und unseren Einfluss zu mehren. Sie taugt höchstens als minderwertiges Testsubjekt für die armseligen, pseudowissenschaftlichen Experimente meines Eheweibs. Wenn ich so darüber nachdenke, sollte ich mein bisheriges Hochzeitspräsent für Xellesa möglicherweise überdenken und durch die abgetrennten Gliedmaßen dieser Missgeburt ersetzen.

      Apropos Hochzeit. Welch Grund zur Freude es für das Haus Ceos gewesen sein muss, gleich zwei Vermählungen beizuwohnen? Als die bäuerliche Hure Tsatsuka vom Gesindel Percosa den Bastard Mendred aus dem Blut Ceos und der Fotze einer Küchenhilfe ehelichte... und als die Wiedervermählung meines Weibs Xellesa und mir in Heidel stattfand. Mutter war natürlich außer sich vor Wut, also war es für sie zweifelsohne weniger ein Grund zu jauchzen und zu frohlocken als für Leyla und Erijon, aber wer interessiert sich schon für das bittere Geschwafel eines alten Weibs?

      Es gibt nichts auf dieser von Elion verlassenen Welt, das Xellesa und mich wieder auseinanderbringen könnte. Keine Flucht aus meinem Hause. Kein Krieg mit fauligen, zerfetzten Leibern, die zusammengeflickt werden müssen. Kein Mitglied unserer dem Untergang geweihten Familie, die statt meinem Erben Erijon einen räudigen Bastard mit schmutzigem Blut offiziell zum Grafen von Haus Ceos ernannt hat. Kein mysteriöser Gedächtnisverlust oder das Erwachen schlummernder Erinnerungen.

      Ich leugne nicht, dass mich diese Offenbarung kalt erwischte. Xellesa, diese heimtückische Teufelin, räkelte sich entblößt auf meinem nackten, erregten Fleisch und flüsterte mir plötzlich giftige Worte ins Ohr. Es war abstrus. Wirr. Ich wusste zuerst nicht, ob das Weib bloß betrunken war und alte Niederschriften ihres Tagebuchs nachplapperte oder ob tatsächlich die Wahrheit über ihre Lippen sprudelte. Sie sprach von dieser geistig beschränkten Wüstenhexe, die mit ihrem Gefasel über uralte Flüche und göttliche Heilung angeblich den benebelten Geist meines Weibs erklaren ließ. So ein Schwachsinn. Es war in meinen Augen nichts weiter als ketzerischer Aberglaube und grober Unfug, geboren aus dem tückischem Geist und geflüstert mit der trügerischen Zunge einer Hochstaplerin aus dem Osten, wo Quacksalberei und Zauberei zum Alltag gehören.

      Aber Xellesa war überzeugt. Unerschütterlich so. Ohne Zweifel oder Skepsis. Und stellte hirnrissige, größenwahnsinnige Forderungen an mich. Ihr Geist ist krank und zerstört, das steht außer Frage. Aber er gehört mir. Genauso wie ihr mit schäbigen Narben übersäter Leib mir gehört. Also machte ich ihr ein Gegenangebot.

      Eheliche mich ein zweites Mal. Hüpfe aus deinem goldenen Käfig geistiger Erniedrigung und körperlicher Qual und lass dir zum Austausch eiserne Ketten an die Füße binden, die zwar niemals zerbersten mögen, aber bis in die staubige Wüste Valencias und die magischen Wälder Kamasylvias reichen. Die akribischen Niederschriften deines kranken, grausamen Geistes bleiben in meinem Gewahrsam, aber ich gestatte dir zu jeder Zeit freie Einsicht. Unserem Fleisch und Blut wirst du in Heidel eine fürsorgliche Mutter und mir ein gutes Eheweib sein. Für deinen Zeitvertreib gewähre ich dir die Möglichkeit, deinen armseligen, irrelevanten Experimenten nachzugehen, ohne dass es dir an den nötigen Mitteln fehlen soll. Überhaupt sollst du unversehrt in Geist und Leib bleiben, sofern du mir gehorchst und gefügig bleibst.

      Und das dumme Ding stimmte zu.

      Also sitze ich nun fast ein Jahr später hier. Zurück auf meinem Anwesen in Heidel. Mit der Kürbispfeife und aromatischem Würztabak am Schreibtisch meiner Arbeitsstube. Die geschäftliche Korrespondenz für heute ist erledigt. Also genieße ich die gemütliche Wärme des Kaminfeuers und den würzigen Geschmack des Tabaks, während draußen ein bitterkalter Schneesturm fegt. Meine Kinder speisen mit meinem Eheweib zu Abend. Und alle sind glücklich und zufrieden.

      Jedoch... eine Sache steht noch aus.

      Calpheon ist nicht vergessen. Throndieb Mendred ist nicht vergessen. Die Vergeltungspläne ruhen lediglich. Noch.

      Bis der richtige Zeitpunkt gekommen ist.

      Noot noot!

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