Friedhofsbesuch
Aegaria betrat das Grundstück, das der Familie Ceos gehört und somit gewissermaßen auch ihr Zuhause war. Es war bereits dunkel geworden und die Wache ließ sie direkt eintreten. Seit fünf Jahren lebte sie hier und nach dieser Zeit kannte man sich einfach. Sie kannte jedes Familienmitglied, das in der Stadt lebte, jeden Bediensteten und umgekehrt war es ebenso. Das achtzehnjährige Mädchen folgte dem gepflasterten Weg durch die kleine, angelegte Wiese zum Haupthaus, da sie mit dem Schatzmeister sprechen musste. Sie brauchte siebzig Silbermünzen um Luzius, seines Zeichens Ritter, für einen Begleitschutz zu bezahlen.
Jetzt, wo Aegaria darüber nachdachte, kam es ihr aber eigenartig vor, dass er dafür Silber verlangte. Immerhin nahm sie ihn ja mit, weil er meinte, dass sie nicht alleine nachts auf den Friedhof gehen sollte. Sie wäre auch alleine gegangen, aber sie wollte den großen Mann nicht beunruhigen. Aber am Ende war ihr das nicht so wichtig. Siebzig Silbermünzen für eine Stunde waren nicht so viel. Sie würde um hundertfünfzig Münzen bitten, damit sie Zeit genug hatten.
Als die junge Frau durch den dunklen Flur und in das Zimmer des Schatzmeisters trat, stellte sie fest, dass sie nicht der einzige Gast war. Vor dem Tisch saß Graf Phineas Gaius Ceos persönlich und war in ein Gespräch vertieft. Aegaria blieb zuerst wie angewurzelt in der Tür stehen, als beide Männer ihren Blick auf sie richteten.
„Guten Abend, Euer Erlaucht“, grüßte sie zuerst den Grafen, verbeugte sich und sah dann zu dem Mann hinter dem Tisch. „Guten Abend, Schatzmeister.“
Die beiden quittierten den Gruß mit einem Kopfnicken und der Graf beendete seinen Satz, bei dem es um eine Lieferung von Kunstobjekten ging. Aegaria wartete still ab, ein Blick auf die Wanduhr verriet ihr, dass es bereits kurz vor zehn Uhr abends war.
„Was gibt es?“, wollte der Graf schließlich von ihr wissen. Sie näherte sich dem Tisch und sah ihrem bereits über sechzig Jahre alten, vom Leben gezeichneten, Herren an.
„Ich wollte den Schatzmeister um hundertfünfzig Silbermünzen bitten, Euer Erlaucht“, erklärte Aegaria. Der Graf machte nur eine wirsche Geste zum Schatzmeister, der daraufhin die Silberkassette öffnete und die entsprechende Anzahl Münzen herauszählte. Er gab sie direkt in einen Beutel. Währenddessen führten die beiden Männer ihr Gespräch fort. Aegaria hörte zwar zu, aber von Kunst verstand sie nichts. Bilder waren für sie einfach nur Bilder und Skulpturen waren Skulpturen. Es waren tote Objekte ohne Seele, doch sie respektierte die Wertschätzung anderer Personen dafür. Schließlich übergab der Schatzmeister ihr das Silber in dem Beutel.
„Vielen Dank und einen schönen Abend, Euer Erlaucht, Schatzmeister“, verabschiedete sich die junge Frau und ging zur Tür, um die beiden nicht länger zu stören. Doch kurz bevor sie hindurchtrat, blieb sie stehen.
„Seherin?“, fragte der Graf einen Moment später und sie drehte sich nochmals um. „Ja?“
„Wofür ist dieses Silber gedacht?“
„Für einen Ritter, der mich für zwei Stunden begleiten wird, damit mich…“, sie runzelte kurz die Stirn, als sie an die Worte, die Luzius aussprach, erinnern musste, „…die Penner in Frieden lassen, Euer Erlaucht.“
Diese Aussage führte zu zwei hochgezogenen Augenbrauenpaaren. Aegaria neigte dazu nur leicht den Kopf.
„Und wohin begleiten?“, wollte der Graf wissen.
„Zum Friedhof, um die Geister zu besuchen.“
„Wie heißt dieser Ritter?“
„Ritter Crow.“
Der Graf atmete tief ein und der Schatzmeister verzog das Gesicht, ob ihres Ziels. Er verhielt sich oft so, wenn sie von Dingen sprach, die er nicht verstand, aber das kümmerte Aegaria nicht. Er sprach ja auch oft von Dingen, die sie nicht verstand.
„Da will sie wohl nur wieder jemand in sein Gemach locken, was?“, meinte er zu dem Grafen., doch dieser ging nicht darauf ein, sondern sprach zu ihr: „Warte vor der Tür.“
Sie kam der Aufforderung nach und stellte sich vor die Tür zum Zimmer des Schatzmeisters und betrachtete den leicht flackernden Lichtschein, der aus dem Zimmer drang und den Boden im Flur beleuchtete. Es störte sie, dass der Lichtschein nicht parallel zu den Spalten der polierten Steinplatten verlief, sondern die saubere Geometrie brach. Sie vernahm weiterhin die Stimmen aus dem Inneren, doch folgte dem Gespräch nicht. Dafür war der Lichtschein am Boden zu ablenkend.
„Mädchen!“ Die Stimme erschallte direkt neben ihr und sie zuckte leicht zusammen und blickte auf. Der Schatzmeister hielt ihr ein Papier hin. „Übergib das Ritter Crow, es wird dafür sorgen, dass er dir nichts antut.“
„Das wird er nicht, sonst hätte ich davon geträumt“, entgegnete Aegaria und nahm das Papier entgegen. Es standen einige Worte darauf geschrieben und sie waren vom Grafen unterzeichnet.
„Wie auch immer“, murmelte der Schatzmeister. Er ging zurück in sein Zimmer und sprach wieder mit dem Grafen. „In meinen Augen ist es Geldverschwendung, der Verrückten das Silber zu…“
Den Rest hörte Aegaria gar nicht mehr, da sie sich beeilte, wieder aus dem Haus und zum südlichen Wachtor zu kommen, wo sie sich um zehn Uhr mit Luzius treffen sollte. Sie war schon spät dran. Das Dokument faltete sie zusammen und steckte es in ihre linke Armschiene. Den Beutel behielt sie in der Hand.
Leichtfüßig bewegte sich die junge Frau durch die Straßen Calpheons. Sie freute sich schon darauf, am Friedhof vielleicht endlich einmal Geister zu sehen und zudem war es noch ein guter Tag, denn sie musste heute noch kein einziges Mal in ihre Welt gehen. Sie mochte ihre Welt, sie mochte den warmen Sand unter ihren Füßen, die Stille, das Blau des Himmels, die warmen Sonnenstrahlen, aber sie konnte sie mit niemanden teilen, denn es war eben nur ihre Welt. Und sie kam nur hinein, wenn es in der richtigen Welt, wie andere sie nannten, etwas Unangenehmes passierte. Früher, bevor sie die Medizin bekam, war das anders, früher konnte sie immer hinein, aber dafür nur schwer wieder zurück. Das hatte Aegaria selbst nicht gestört, aber andere Personen machten sich Sorgen und darum nahm sie weiterhin die Medizin. Gedankenverloren hatte sie schließlich die Wachstube am südlichen Tor erreicht und klopfte an.
Drei Stunden später lag Aegaria in ihrem Bett. Tatsächlich war sie mit Luzius am Friedhof gewesen und anschließend hatte er sie noch auf ein Getränk eingeladen. Es war ein schöner Abend mit interessanten Gesprächen. Und tatsächlich hatte sie auf dem Friedhof einen Geist gesehen. Es war nur ein Lichtpunkt, doch sie hatte gespürt, wie er sie angesehen hatte. Leider konnte sie mit ihm nicht reden, aber sie hatte ihm zugewunken. Davon würde sie Nijami erzählen!
Nijami war die Straßenmusikantin, die sie überhaupt erst auf die Idee gebracht hatte, am Friedhof nach Geistern zu suchen, nachdem sie von Geistern gesungen hatte. Nijami war klug, das hatte Aegaria bereits festgestellt. Sie wusste so vieles, über das sie singen konnte und sie hatte auch gewusst, dass am Friedhof Geister zu finden waren. Nur komischerweise fürchtete die Bardin Friedhöfe, das war sehr eigenartig.
Weniger erfreulich war jedoch Mathilda. Die Frau war eine gutherzige Ehefrau und Mutter gewesen, doch eine Krankheit hatte sie dahingerafft und so lag sie nun begraben am Friedhof. Sie hatte Aegaria darum gebeten, mit ihrem Mann zu sprechen, der seit ihrem Tod zum Alkoholiker geworden war. Er sollte mit dem Trinken aufhören, da die Kinder ihn sonst verlassen würden. Aegaria hatte eingewilligt, das zu tun, doch dann kam Mathilda noch zwei weitere Male zu ihr und erinnerte sie daran. Das war lästig, vor allem, da sie sich gerade mit Luzius unterhalten hatte. Aber sie konnte auch verstehen, dass es Mathilda wichtig war und darum würde sie sich gleich in der Früh kümmern. Zumindest, wenn sie davon träumt, wo sie den trinkenden Mann finden könnte.
"Japan ist ein wenig so wie Österreich: da hast du erstens das Meer..."